„Eine Notunterkunft ist keine Wohnung“
Seine blaue Krawatte liegt auf der Fensterbank. „Wir sind ja unter uns, die brauche ich nicht, oder?“, fragt NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) jovial. Das Interview kann beginnen. Etwas verspätet - der Minister ist wohl sehr beschäftigt. Dennoch ist die Atmosphäre entspannt, wir fühlen uns willkommen. Unsere Fragen mussten wir zuvor nicht einreichen, wie sonst oft üblich; und es ergeben sich auch zusätzlich zu den vorbereiteten noch weitere. Dadurch entwickelt sich ein echtes Gespräch - mit zum Teil sehr persönlichen Antworten eines Politikers, der seinen Einsatz für Benachteiligte zur Gewissensfrage gemacht hat. Ein Interview über Obdachlosigkeit, Housing First und das christliche Menschenbild, das Hubert Ostendorf von fiftyfifty und Werner Lüttkenhorst vom Paritätischen NRW geführt haben. (Fotos: Franklin Berger)
Hubert Ostendorf: Sehr geehrter Herr Minister, wir bedanken uns, dass Sie sich unseren Fragen stellen. Die CDU/FDP-Landesregierung in NRW hat 2008 etwa 91.000 Wohnungen der LEG verkauft und damit zur heutigen Wohnungsmarktmisere beigetragen. Würden Sie im Nachhinein sagen, dass dies ein Fehler war?
Minister Karl-Josef Laumann: Ich denke, dass eine Entscheidung, die vor über zehn Jahren gefällt worden ist, schwer aus der heutigen Sicht beurteilt werden kann. Bei der LEG gab es damals einen jahrelangen Investitionsstau, wodurch das Geld gar nicht mehr da war, um die notwendigen Renovierungen hinzukriegen. Eine ähnliche Situation gab es bei den DGB-eigenen Wohnungen der „Neuen Heimat“, die sich heute auch nicht mehr im Gewerkschaftseigentum befinden. Hinzu kam zu dieser Zeit die Auffassung, dass es gut sei, wenn der Staat sich aus vielen Aufgaben zurückzieht. Aus heutiger Sicht wäre es besser gewesen, die Wohnungen wären in unserem Eigentum geblieben – das muss ich ganz klar sagen. Heute sind wir der Meinung, dass der Staat bei der Infrastruktur eine gestaltende Kraft haben muss. Ich bin daher heute froh über jede gemeinnützige und öffentliche Wohnungsbaugesellschaft, die wir haben.
Werner Lüttkenhorst: Herr Minister, Sie haben erst neulich gesagt: „Wohnungslosigkeit ist nach Hunger das schlimmste Zeichen von Armut.“ Viele haben den Eindruck, dass Ihnen die Schicksale von Menschen, die auf der Straße leben, sehr nahe gehen.
Laumann: Das Thema Wohnungslosigkeit ist mir ein ganz besonderes politisches Anliegen. Es kann nicht sein, dass in unserem Wohlfahrtsstaat Menschen auf der Straße leben. Jeder weiß doch, dass der Mensch Wärme braucht und ein Zuhause, das bedeutet auch: einen privaten Rückzugsraum. Natürlich ist es gut, dass wir in Nordrhein-Westfalen Notunterkünfte für Wohnungslose haben. Aber eine Notunterkunft ist eben keine Wohnung. Dass es Menschen gibt, die nicht wissen, wo sie bleiben sollen, ist eine Katastrophe. So ist es doch nur folgerichtig, dass ich mich als Minister mit meinen Mitarbeitern um dieses Problem kümmere.
Ostendorf: Hat Ihr Mitgefühl für benachteiligte Menschen Gründe, die in Ihrem eigenen Lebenslauf zu finden sind? Sie sind ja in einer nicht gerade wohlhabenden Familie aufgewachsen.
Laumann: Ich komme von einem Bauernhof, der keine Schulden hatte. Gegenüber heutigen Wohlstandsvorstellungen bin ich, wie viele meiner Generation, bescheiden aufgewachsen. Aber ich hatte eine sehr behütete und schöne Kindheit. Wir haben nichts vermisst, und da wir Eigentum hatten, hat sich die Frage, keine Wohnung zu haben, für meine Familie nie gestellt. Was mich und meine Einstellung benachteiligten Menschen gegenüber viel mehr geprägt hat, sind meine katholische Erziehung und mein Glaube.
Ostendorf: Wie motiviert Sie Ihr Glaube denn im Engagement für mehr Gerechtigkeit?
Laumann: Ich glaube fest daran, dass wir Menschen am Ende unseres Lebens Rechenschaft abgeben müssen über das, was wir getan haben. Und wenn man, wie ich, Minister eines Bundeslandes ist, dann gelten sicher auch andere, strengere Maßstäbe als bei Privatpersonen. Ich bemühe mich, dem gerecht zu werden, auch wenn ich weiß, dass es in Gänze nicht gelingen kann. Und weil ich weiß, dass Gott gerade den Geringsten hochschätzt, liegt es mir am Herzen, das Thema Obdachlosigkeit zu einem wichtigen Thema meines politischen Handelns zu machen. Ich kann es vor meinem Gewissen nicht verantworten, hier oberflächlich zu sein. Ich werde ja, wie andere Menschen auch, im Alltag mit Armut konfrontiert. Wenn ich zum Beispiel mit offenen Augen vom Bahnhof mit der Straßenbahn hierher ins Ministerium fahre, dann sehe ich die obdachlosen Menschen an der Kniebrücke. … Als Sozialminister ist es meine Aufgabe, im Rahmen meiner Möglichkeiten, die natürlich endlich sind, die Situation wohnungsloser Menschen zu verbessern. Und zwar institutionell, über das hinausgehend, was ich als Privatmensch tun kann und tue.
Ostendorf: Ist Ihr Bild von Gott denn das eines strafenden Gottes, vor dem wir Angst haben müssen, wenn wir nicht genug Gutes tun?
Laumann: Ich glaube, dass der liebe Gott, und deshalb nenne ich ihn ja auch so, barmherzig ist. Und die Würde des Menschen ist unverletzlich, weil der Mensch ein Ebenbild Gottes ist. Dies gilt selbstverständlich für alle, auch für Wohnungslose, Arme und Benachteiligte. Dieses Menschenbild muss die Grundlage einer christlichen Politik sein. Ein Sozialminister muss sich in erster Linie um diejenigen kümmern, die es schwer haben in der Gesellschaft. Es ist mir persönlich wichtig, dass ich diesem Auftrag gerecht werde.
Lüttkenhorst: Von 2015 bis 2018 hat sich die Zahl der Wohnungslosen in NRW mehr als verdoppelt. 44.434 Menschen waren es laut einer Statistik des Landes - 37,6 Prozent mehr als im Vorjahr, ein schlimmer Trend. Sie haben die Hilfen für wohnungslose Menschen in diesem Jahr um 3 Mio. auf 4,8 Mio. Euro erhöht. 2020 sollen sogar 6,8 Mio. Euro zur Verfügung stehen. Welche Projekte werden damit gefördert?
Lassen Sie mich bitte zunächst einmal zu den gestiegenen Wohnungslosenzahlen Stellung nehmen. Die gewaltige Zunahme hängt auch damit zusammen, dass anerkannte Asylbewerber, die noch in einer Unterkunft sind und keine reguläre Wohnung gefunden haben, in die Statistik mit einfließen. Unsere Landesinitiative gegen Wohnungsnot „Endlich ein ZUHAUSE!“ soll dazu beitragen, dass Menschen, die kaum Chancen haben auf dem Markt, in Wohnraum vermittelt werden. Dazu brauchen wir Pfadfinder, die Wohnungen für sie suchen und soziale Betreuung organisieren, auch, damit Vermieter die größtmögliche Sicherheit haben, dass die Vermietung am Ende klappt. In Köln, einer Stadt mit einer sehr hohen Anzahl an Wohnungslosen, haben wir begonnen, wohnungslosen Menschen bei der Suche nach Wohnraum zu helfen. Sozialarbeiter und Immobilienkaufleute haben dabei eine Schlüsselrolle. Nach diesem Modell bilden nun auch in Düsseldorf, Dortmund und Bochum und in vielen weiteren Städten und Kreisen sogenannte Kümmerer eine Schnittstelle zwischen dem Markt und den Klienten. Durch ein Abkommen mit der Wohnungswirtschaft in Nordrhein-Westfalen wird sichergestellt, dass auch Wohnungen zur Verfügung stehen. Ein spezielles Augenmerk legen wir auch auf die besonders verletzlichen Gruppen wie junge Wohnungslose, Frauen und Familien. Unsere Hilfen sind nachhaltig, weil die Kümmerer auch nach der Vermittlung in Wohnraum noch für die Wohnungslosen da sind.
Lüttkenhorst: Ein wichtiger Baustein im Kampf gegen Obdachlosigkeit sind Housing First-Projekte. Ihr Ministerium fördert den Housing First-Fonds der Straßenzeitung fiftyfifty und des Paritätischen NRW. Welche Vorteile sehen Sie durch Housing First?
Laumann: Einzigartig ist am Housing-First-Ansatz, dass die Menschen, die schon lange wohnungslos sind, direkt eine Wohnung mit einem regulären Mietvertrag erhalten. Es ist sehr gut, dass der Housing First-Fonds langfristig Wohnraum für Wohnungslose schafft. Dadurch, dass sich die durch den Fonds akquirierten Wohnungen größtenteils im Eigentum der teilnehmenden Träger befinden, verfügen sie über einen Bestand, über den sie auch selbst entscheiden können. Dadurch bleiben diese Wohnungen auf Dauer für Wohnungslose erhalten. Wichtig sind auch die begleitenden Hilfen, weil den Betroffenen dadurch geholfen wird, sich in einer Hausgemeinschaft gut einzufügen und sich dort wohl zu fühlen. Das geht ja nur durch Begleitung.
Ostendorf: Das kleine Finnland hat gezeigt, dass durch Housing First die Straßen-Obdachlosigkeit quasi überwunden werden kann. Wäre es nicht sinnvoll, Housing First-Angebote bei allen Trägern der Wohnungslosenhilfe zu etablieren? Immerhin haben wir mit unserem Fonds in gut eineinhalb Jahren bereits 20 Träger in 11 Städten motivieren und unterstützen können, Apartments für 26 Obdachlose ohne die geringste Chance auf dem Wohnungsmarkt zu kaufen, für sechs weitere Langzeit-Wohnungslose wurden reguläre Mietverträge vermittelt. Und das nicht etwa in Notunterkünften, sondern in normalen, bürgerlichen Häusern. Das hätte doch niemand zuvor für möglich gehalten. Mehr Integration geht ja nicht.
Laumann: Finnland kann sicherlich in gewisser Weise ein Vorbild sein. Aber wir müssen dennoch auch sehen, dass die Situation in Deutschland und speziell in Nordrhein-Westfalen eine andere ist. Finnland ist ein kleines, eher dünn besiedeltes Land und Deutschland ist eine starke Industrienation, zudem attraktiv für Zuwanderung. Ich kann mir zudem vorstellen, dass für Arbeitsmigranten die erste Adresse nicht Finnland ist, sondern eher das Ruhrgebiet. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass die Herausforderungen in Deutschland viel größer sind als in Finnland.
Ostendorf: Wenn ich die Frage einmal auf die Situation in Deutschland anpassen darf. Ich arbeite schon seit 24 Jahren in der Wohnungslosenhilfe. Und bis wir vor etwa vier Jahren mit Housing First begonnen haben, habe ich erlebt, dass besonders in der Armut verfestigte Menschen immer wieder wohnungslos geworden sind – von der Notunterkunft in betreute Einrichtungen und dann am Ende wieder auf die Straße. Forscher sprechen in diesem Zusammenhang ja von einem Drehtüreffekt. Und nun, mit Housing First, erleben wir wahre Wunder. Die Menschen, die wir betreuen, kommen zu über 90 Prozent in ganz normalen, bürgerlichen Häusern gut zurecht, finden teilweise wieder den Kontakt zu ihren Familien oder sogar ins Berufsleben zurück. In jedem Fall stabilisieren sie sich nachhaltig, auch was den Konsum von Suchtmitteln anbetrifft.
Laumann: Das kann ich gut nachvollziehen. Wenn Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens auf der Straße verbracht haben, endlich wieder eine Wohnung haben, die ihnen nicht mehr genommen werden kann, dann erhalten sie dadurch auch die Sicherheit, die sie brauchen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Diese Sicherheit hilft ihnen, Probleme wie etwa Sucht oder andere, wie Arbeitslosigkeit, anzugehen. Deshalb ist es gut, dass es Initiativen wie den Housing First-Fonds gibt. Aber, wir müssen natürlich auch zugestehen, dass es eine große Herausforderung ist, so viel Kapital zu organisieren, dass Wohnungen gekauft werden können, so, wie Sie das mit dem Housing First-Fonds tun. Insofern müssen wir auch im Bestand dafür sorgen, dass Wohnungslose die Chance auf eine Wohnung bekommen.
Ostendorf: Die Advents- und Weihnachtszeit ist für Wohnungslose immer eine sehr schwere Zeit, weil sie dann besonders intensiv Armut, Ausgrenzung, Verlust der Familie und Kälte erfahren. Engagieren Sie sich auch als Privatmensch gegen Armut? Kaufen Sie Straßenzeitungen?
Laumann: Wenn ich in Berlin bin und am Bahnhof Obdachlose sehe, die Straßenzeitungen anbieten, kaufe ich selbstverständlich eine. Und auch in Nordrhein-Westfalen gibt es gute Straßenzeitungen, zum Beispiel in Düsseldorf die fiftyfifty, BoDo in Bochum/Dortmund oder draussenseiter in Köln und draussen in Münster. Natürlich ist die Weihnachtszeit für Menschen, die sich aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen, eine sehr schwere Zeit. Es ist ja nicht umsonst die Zeit, in der wir auch die meisten Selbstmorde zu beklagen haben. Auf der anderen Seite ist in der Weihnachtszeit bei vielen das Mitgefühl besonders groß und sie spenden für arme und wohnungslose Menschen. Ich finde Barmherzigkeit und viele Aktionen, die in der Weihnachtszeit für arme Menschen gemacht werden, richtig. Es darf aber nur nicht diese Gewissensberuhigung sein.
Ostendorf: Ist das auch ein Kriterium für Ihr Handeln als Politiker?
Laumann: Eine gute Sozialpolitik kommt ohne Barmherzigkeit nicht aus. Aber als Politiker muss ich an Strukturen denken. Ich kann die Probleme im Sozialstaat nicht mit Barmherzigkeit lösen. Jeder, der einem Obdachlosen Geld gibt oder eine Straßenzeitung kauft, tut damit Gutes. Als Privatmensch kann ich dem Obdachlosen am Bahnhof eine Bratwurst kaufen, als Politiker muss ich mich bemühen, Strukturen zu schaffen, die diesen Menschen dauerhaft helfen. In der Stadt Münster ist es zum Beispiel so, dass immer dann, wenn die Stadt mit Grundstücken an Wohnungsbauprojekten beteiligt ist, es einen bestimmten Anteil Sozialwohnungen geben muss. Wir können über Strukturen, die wir schaffen, nachhaltig den Sozialstaat verbessern.
Lüttkenhorst: Quoten für Benachteiligte im Sozialen Wohnungsbau – das ist ein gutes Stichwort. Was wir aber gerade in der Diskussion um Wohnungslosigkeit erleben, ist, dass diese Quoten Obdachlosen kaum helfen, weil durch die grassierende Wohnungsnot und dadurch steigende Mieten heutzutage ja schon der Polizist, die Erzieherin oder die Grundschullehrerin einen Wohnberechtigungsschein bekommen und so die Quote ohne die Unterbringung von Wohnungslosen schon erfüllt werden kann. Deshalb fordert etwa fiftyfifty zusammen mit der Diakonie Düsseldorf eine Quote innerhalb der Quote - für Obdachlose. Was denken Sie darüber?
Laumann: Das ist eine gute Idee.
Ostendorf: Letzte Frage. Wie feiern Sie das Weihnachtsfest?
Laumann: Ich bin über die Weihnachtstage grundsätzlich zu Hause. Heiligabend esse ich mit meiner Familie gut. Am ersten Weihnachtstag gehen wir zur Kirche. Und ich bin bei meiner Schwiegermutter und meiner Mutter. Die ist in diesem Jahr 90 geworden und freut sich, wenn ihre Kinder bei ihr sind. Weihnachten ist das Fest der Familie.
Der Housing First-Fonds
… wurde vom Straßenmagazin fiftyfifty und dem Paritätischen NRW gegründet und versetzt Organisationen der Wohnungslosenhilfe in ganz NRW in die Lage, Apartments für Langzeitwohnungslose zu kaufen und nach den Kriterien von Housing First dauerhaft an Benachteiligte zu vermieten. Der Fonds bezuschusst den Ankauf der Wohnungen mit 20 Prozent und übernimmt die Kaufnebenkosten wie Makler, Grunderwerbsteuer, Notar etc. Außerdem organisiert er einen Erfahrungsaustausch unter allen Projektteilnehmern und hat zusammen mit der Hochschule Münster einer Weiterbildung für Sozialarbeiter*innen in der Betreuung nach den Vorgaben von Housing First entwickelt. Der Fonds wird gespeist aus Erlösen aus dem Verkauf einer Edition des Künstlers Gerhard Richter (ca. 1,2 Mio. Euro). In der Entwicklungsphase der ersten drei Jahre fördert das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen (MAGS) das Projekt aus dem Aktionsprogramm „Hilfen in Wohnungsnotfällen“ mit zusätzlich insgesamt 424.000 Euro. Am Ende der dreijährigen Projektentwicklung im November 2020 sollen in NRW etwa 100 wohnungslose Menschen von der Straße dauerhaft in Wohnungen unterkommen. Bisher sind es bereits 32.
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