Ein früher Morgen in einer Stadt, eine Straße mit vielen asiatischen Restaurants, Hotels und Geschäften. Die Autoscheiben sind noch nass vom Morgentau. Hier und da sieht man Menschen mit Aktentaschen, die zur Arbeit eilen. In dem Eingang eines Hauses steht ein Mann im beigen Trenchcoat und beobachtet das Geschehen. Plötzlich fährt ein großer LKW vor, die Heckklappe öffnet sich, wie das Maul eines Wales.
Hastig schiebt ein Mann mit seiner Ameise, beladene Paletten, mit Folie eingeschweißten Kartons auf die Rampe. Nach dem Absenken fährt er geschickt seine Ladung in den Supermarkt.
Dort warten schon emsige Angestellte auf die Ware. Hastig werden die Kartons geöffnet und Reiswein, Sojasoße und Reisnudeln landen in den Regalen. Die leeren Schachteln und Kartons werden in einen riesigen Korbrollewagen vor dem Geschäft geworfen. Jetzt leuchten die Augen des Beobachters auf. Mit gezielten, eiligen Schritten geht er zum Ort seiner Wünsche, greift in den Korb und nimmt zwei unverletzte Kartons an sich.
Das ist es, was er gesucht hat, denkt Lothar Guderian.
Nun möchte ich erst einmal über diese, nennen wir sie „Werbebilder“ sprechen. Lothar Guderian hat dieses Material für sein kreatives Schaffen entdeckt. Wellpappe – nicht irgendeine – sondern die, welche wir in der Verpackung von Getränken und Lebensmitteln vorfinden. Dieser Werkstoff ist schwer zu verarbeiten, da er leicht knickt und bricht – somit also eine neue, echte handwerkliche Herausforderung.
Sich Ihr zu stellen ist zu einer zentralen Aufgabe seines Schaffens geworden. Normalerweise wandern Verpackungskartonagen nach Gebrauch in den Müll – jetzt aber werden sie durch gestalterische Veränderung zu neuem Leben erweckt. Karton ist Holz – das heißt Natur – ein zusätzlicher Grund somit – sich diesem Werkstoff zu widmen. Mittlerweile arbeitet Lothar Guderian mit Kartons aus fast allen Teilen der Welt, was diesen Bildern teilweise etwas rätselhaftes und exotisches gibt. Dennoch steht immer über allen der Anspruch bzw. die Suche nach klarer Form, Harmonie und Ästhetik. Den Karton, meist farbig bedruckt, wird durch Schnitte und Verflechtung ihrer ursprünglichen Botschaft entzogen – sie wird kaschiert. Die Oberfläche wird farblich verändert – und lackiert. So entstehen Arbeiten – mit einer neuen Facette im Spektrum der Bilderwelt des Lothar Guderian. Meist farbig, fröhlich – grafisch leicht. Kunst mit einem Augenzwinkern? Wie auch immer, auf jeden Fall sind diese Arbeiten handwerklich und gestalterisch gekonnt und konsequent umgesetzt.
Jetzt aber zu meinen „Lieblingsbildern“, den weißen Arbeiten von Lothar Guderian:
Geschnittener Karton, mal waagerecht und senkrecht, mal diagonal, verflochten in einer bewusst angelegten Ordnung. Es handelt sich wesentlich um eine thematische Objektivierung der Struktur. Dieses mutet zwar in den Reliefs, von Lothar Guderian, in ihrer Erscheinungsform evident geometrisch an, gleichwohl aber ist sie keineswegs in diesem reinen formalen Sinne nur zu verstehen. Zeit und Raum sind fast Synonyma. Das Aufeinanderfolgen einer Verflechtung ist ein Teil isolierter Realität. Durch Wiederholung enthalten sie außer Rhythmus und Zeit zugleich, durch das Prinzip der Wiederholung, die Suggestion der Abwesenheit von Zeit, der Zeitlosigkeit.
Durch diese Monotonie entsteht die größtmögliche Spannung. Dieses bedeutet auch, dass seine Reliefs in Form und Reihung identischer Elemente und ihrer strengen, horizontal, diagonal oder vertikal angelegter Ordnung auf Geometrie zwar verweisen, sind aber nicht das Thema von Lothar Guderian.
Es ist nur zu bemerken, dass es sich hier bei dieser Organisation einfachster Formen um eine von der Wirklichkeit abgeleitete Realität handelt. Die Folge, der fast identischen Grundelementen ist unbegrenzt, wird aber durch den Rahmen definitiv festgelegt und damit das offene System betont in ein geschlossenes verwandelt.
Seine weißen, monochromen Bilder sind seine eigenständige Ausdrucksform und haben mindestens die Qualität der Reliefs von Jan Schoonhofen oder den Prägedrucken von Günther Uecker...
In einer Zeit der Wegwerf- und Austauschgesellschaft ist der Weg von Lothar Guderian äußerst wichtig, auch wenn sein Material nicht immer edel ist, aber gerade dieses macht seine Arbeit sehr reizvoll und spannend.
Lothar Guderian hat in diesem Jahr beim 32. Salon für zeitgenössische Kunst in Revin den großen Preis für abstrakte Kunst verliehen bekommen, und ich glaube, dieses hat er verdient.
Hubertus Neuerburg, Kunstprofessor an der Kunstakademie in Düsseldorf, hielt diese Rede bei der Eröffnung am 7. Oktober 2005.