Photographien des modernen Lebens
Dass eine Gesellschaft aus Individuen besteht, mag eine triviale Selbstverständlichkeit klingen. Dabei verbinden wir „Gesellschaft“ freilich immer mit der Vorstellung von Menschen oder Menschenmengen, in jedem Fall aber mit einer Idee des Menschen. Eines der wichtigsten, wenn auch schwer zu fassenden Dinge überhaupt, das als eine uns irgendwie tangierende Größe existiert, ist die Gesellschaft. Dass Menschen allein nicht auf den Begriff „Gesellschaft“ festzulegen sind, sondern auch die öffentlichen Räume, die sie bevölkern, eine nachhaltige Rolle spielen und Gesellschaft ebensowenig auf ein Territorium oder eine bestimmte soziale Gruppe zu begrenzen ist, zeigt Beat Streuli in seinen Aufnahmen von Menschen aus internationalen Großstädten.
Beat Streulis Kunst ist getragen vom Interesse an dem, was Menschen aus Großstädten bewegt. Er denkt über urbane Situationen nach, über ihre Vergnügungen und Enttäuschungen, ihre zahllosen psychologischen Zustände und sozialen Vernetzungen. Er macht zeitgenössische Gesellschaftsporträts und photographiert dabei die intensive Energie des Moments. Der Photograph taucht sozusagen in die Menschenmenge ein, wobei er zu den Passanten mittels des Teleobjektivs Distanz bewahrt. Seine Bilder evozieren bewusst einen Hauch von Voyeurismus, der bei seinem Blick auf Menschen durchgängig mitschwingt.
Streuli photographiert Personen, die selbstbewusst auftreten und Souveränität offenbaren. In einer Aufnahme von 1998 wartet eine junge Frau am Straßenrand auf das „Walk“ - Signal der Fußgängerampel. Sie fühlt sich unbeobachtet. Sie steht gedankenversunken und nimmt nicht wahr, dass eine Photokamera auf sie gerichtet ist. Die Frau trägt eine dünne, eng anliegende Stoffhose und ein T-Shirt, das die Formen ihres Körpers darunter erkennen lässt, eine Alltagserotik, die heute zum Selbstverständnis junger Frauen in westlichen Großstädten zählt. Sie befindet sich in einem Alter, das eine Phase des Übergangs markiert. So wie sie im nächsten Augenblick die Straße überqueren, und sich dann die im Bild festgehaltene Situation unwiederholbar aufgelöst haben wird, wird sie in Kürze einen Lebensabschnitt verlassen und einen neuen begonnen haben. Streuli wählt, wie er sagt, bewusst Menschen, die in der Phase zwischen Jugend und Erwachsenenalter leben.
Der Künstler verweist auf eine Situation, die exemplarisch für eine viel größere, globale Realität steht. Seine Protagonisten treten in einer Weise in Erscheinung, die sich um eine persönliche Ausstrahlung bemüht. Trotz allen Bestrebens um Individualität der Einzelnen handelt es sich um Varianten eines Typs von Großstadtjungendlichen, die ein international verbreitetes, generationsspezifisches Auftreten repräsentieren, das sich in Kleidung, bestimmten Accessoires, speziellen Modemarken, in Gesten und Haltungen manifestiert. Dabei wird auch evident, dass sich das Individuelle heute weltweit angleicht.
In seinen Photos thematisiert Streuli des Naheliegende. Er hält fest, was ihn selbst täglich umgibt und beschäftigt. Die verschiedenen kulturellen Wurzeln und Lebensalter lassen in seinen Bildern gesellschaftliche Rückschlüsse zu. Neben seinem Interesse an scheinbar nebensächlichen Motiven und der Erhebung des Banalen in den Rang ausstellungswürdiger Bilder verraten seine Photos aber auch eine ausgeprägte visuelle Lust an der Oberfläche der materiellen Stoffe. Dabei offenbaren sie einen stupenden Glanz und tragen Reflexe des sonnigen Tageslichts.
Beat Streuli arbeitet mit einfachen, zeitgemäßen Mitteln. Durch die verkürzte Perspektive des Teleobjektive des Teleobjektivs gelingt ihm eine Verdichtung des Motivs und eine Konzentration auf die im öffentlichen Raum gezeigte Person. Vermittels der Enge des Bildausschnitts aktivieren sich optische Kräfte, die für eine visuelle Intensivierung verantwortlich sind. Er richtet seinen Blick aber oft erst dann auf die Menschen, wenn diese „ihr öffentliches Gesicht“ kurz vergessen und sich unbeobachtet fühlen. Die Menschen haben, wie er sagt, „oft einen etwas abwesenden Ausdruck“.
Er nimmt die Passanten aus ihrer Bewegung heraus auf. Bei der Präsentation seiner Bilder als Diaprojektionen werden die Motive jeweils nach einiger Zeit weitergeblendet. Der Betrachter kann sich in den Fluss der Passanten hineinfühlen. Die Ästhetik der Werbetrailer und Videoclips, die mit schnellen Schnitten und verblüffenden Kameraoperationen arbeiten, haben heute nicht nur Kinofilme und Nachrichten, sondern auch die Photographie inspiriert. Spotlängen von wenigen Sekunden und eine Verdichtung der Motive durch eine rasend schnelle Bildfolge prägen Spots von Coca-Cola, deren Jingles Spitzenreiter der Hitparaden werden. Obwohl Streulis Diaprojektionen im Vergleich dazu extrem verlangsamt erscheinen, entscheinen, entziehen sich die Bilder einer eingehenden Betrachtung, wie es bei einem herkömmlichen Großphoto oder einem Gemälde möglich ist.
Damit reflektiert er die Frage nach dem eigentlichen Werk, denn er nimmt durch die verschiedenen Medien eine künstlerische Position ein, die zwischen statischem und bewegtem Bild angesiedelt ist. So konstituieren sich seine Projektionen und die Photoabzüge aus dem Moment der Aufnahme, dem ausgewählten Motiv sowie der Dramaturgie der Bildfolge. Bei den Videos fängt er von einer starren Kameraposition aus die Bewegung der Menschen ein, gibt sie verlangsamt wieder und tut damit das Gegenteil dessen, was ihm mit der Photokamera gelingt.
Seine Methode lässt sich als den Versuch beschreiben, den Charakter eines „dokumentarischen Realismus“ zu durchbrechen, indem er hinter die Ebene bloßer Realitätswiedergabe dringt, die aus ihrem authentischen Kontext isolierte Wirklichkeit mittels multimedialer Bearbeitungstechniken verdichtet und zu neuen Bedeutungskomplexen zusammenschließt. Der scheinbar objektive Charakter des photographischen Abbilds wird durch den subjektiven Blick und die Wahl des Bildmotivs relativiert. Der Massencharakter der Photographie wird durch die Diaprojektionen unterstrichen, erfährt aber durch die Herstellung der großformatigen Bilder und die selbstgewählte Beschränkung der limitierten Auflage gleichzeitig eine Infragestellung, da dem photographischen Bild etwas von der „Aura“ des Einmaligen, der „Echtheit“ zurückgegeben wird. Doch dies allein trifft nicht den Kern von Streulis Photographie. Seine Arbeiten beziehen ihre ästhetische Spannung aus dem Versuch maximaler künstlerischer Einflussnahme auf die vorgegebene Realität mittels der Motivwahl. Durch die formale Reduktion des Motiv auf den Ausschnitt erreicht Streuli eine neue Qualität. Die Ebene der konkreten Bildbedeutung, die in seinen frühen Schwarz-weiß-photos noch weitgehend erhalten war, wird in den neueren Arbeiten abgelöst durch Motive einer komplexeren ästhetischen Bedeutungsstruktur, die durch die Intensität der Großformate und der Bildfolge der Diaprojektionen ins Bewusstsein drängen.
Die Konsequenz in Streulis serieller Arbeitsweise und die verschiedenen Präsentationsformen zeugen von einer analytisch geprägten Denkweise. Die Idee zu einem Photo entsteht vor dem Moment der Aufnahme, wobei Zufall und Spontaneität zum Konzept gehören. Auch wenn seine Photo durch das stets wiederholte Aufnahmeverfahren so erscheinen, als ob sie schnell und seriell angefertigt wurden, ist jedes Bild dennoch das Ergebnis eines reflektierten, künstlerischen Prozesses sowohl bei der Aufnahme selbst, als auch später bei der Bestimmung des zu publizierenden Motivs. Seine Kunst ist also an konzeptuellen Methoden orientiert. Dabei wird das Konzept des gesamten Oeuvres stets mitthematisiert und nur die ihm entsprechenden Motive erlangen Bildwürdigkeit.
Es wurde in der Literatur wiederholt auf Streulis Nähe zu Walker Evans „Subway“ – Photos hingewiesen, bei denen der amerikanische Photograph jeweils sein Gegenüber in der U-Bahn aufgenommen hatte. Bei dieser Überlegung und im Kern sicher vertretbaren Ansicht, dass der Moment des scheinbar Zufälligen bei Streuli eine Nähe zu Evans hat, wurde jedoch übersehen, dass es in der Kunst unzählige Beispiele von Straßenszenen mit Passanten gibt, dies allein also kein nennenswerter Umstand ist. Auch die Malerei kennt dieses Thema. Gustave Caillebotte malte beispielsweise in den 1880er Jahren Spaziergänger, die so vom Bildrand angeschnitten sind, als seien sie dem Maler ins Bild gelaufen, vergleichbar der Situation, die einem Photographen widerfahren kann, wenn versehentlich jemand im Moment der Aufnahme vor dessen Kamera tritt und die freie Sicht versperrt. Bei solchen Erwägungen bleibt unberücksichtigt, dass Evans oder Caillebotte zu Zeiten lebten, in denen beschleunigte Bilder, wie wir sie heute kennen, gar nicht existierten. Die Geschwindigkeit hat unsere Wahrnehmung grundlegend beeinflusst und die kinematische Energie des video- und computergraphischen Bildes hat die Photographie massiv verändert. Auch wenn ebenfalls schneller geworden, die Schnitte folgen unmittelbarer aufeinander. In Streulis Photos ist die Zeit nicht nur angehalten, in ihnen sind auch Geschwindigkeit und Bewegung der Menschen gezeigt. Teilweise wird dies durch Unschärfen oder durch die Positionierung der Personen an dezentralen Stellen im Bild zum Ausdruck gebracht.
Jean-Christophe Ammann spricht davon, Streuli würde „am Motiv vorbei photographieren“. Dabei sind aber gerade die Gesamtsituationen, die Stimmung und Atmosphäre in den Bildern sowie die gesellschaftlichen Informationen, die sie vermitteln, sein zentrales Thema und somit das jeweilige Motiv. Es sind nie die Menschen allein.
Der Künstler zeigt auch, dass sich seine Photographie aus Bildsequenzen konstituiert. Während Film und Video durch die bewegten Bilder und durch Wort und Ton Möglichkeiten der Erzählung haben, die das photographische Einzelbild nicht kennt, arbeitet Streuli in Bildgruppen, die er als Projektionen im Überblendverfahren präsentiert, um mit zeitgemäßen, aber photographischen Mitteln seine Bildsprachen im Bereich zwischen statischem und kinematographischem Bild zu verankern. So kann er die zeitliche Dimension, die zwischen zwei Bewegungen oder „stills“ liegt, nachvollziehbar machen und eine Sequenzlockerung oder –verdichtung organisieren. Er instrumentalisiert also den seriellen Charakter der Photographie und bewirkt eine Steigerung an Komplexität.
Durch die Diaprojektionen gelingt dem Künstler auch eine visuelle Öffnung der Wandflächen und eine Erweiterung des Raumes. Die projizierten Bilder scheinen aus sich selbst zu leuchten. Dabei wird das Tiefenlicht der Photofarben mobilisiert. Dieses aus einer unteren Raumschicht hervordringende Licht scheint von innen heraus auf den Betrachter zu strömen.
Obwohl in der heutigen mediengeprägten Gesellschaft Großphotos die Bilderflut der Werbewelt beherrschen und eine rasche Betrachtungsweise üblich, ja bisweilen notwendig ist, kann man sich den Bildern Streulis nur in Ruhe nähern. Die aus dem getriebigen Straßenbild herausgelösten Personen werden zu einer Anschauung gebracht, die sie ohne Streulis Photographie nicht erfahren würden. Diese Methode erinnert an Werbeaufnahmen, bei denen die Bildaussagen ebenfalls plakativ ins Zentrum gerückt werden.
Jede photographische Aufnahme, die einen Menschen zeigt, ist zwar die Repräsentation einer realen Person, es wird jedoch eine Ansicht festgehalten, wie sie in der realen Begegnung mit einem Menschen nicht existiert. Auch Streulis Personen kann man in der aufgenommenen Weise in der Realität so nicht betrachten, denn sie sind entweder in Bewegung oder befinden sich in Situationen, die sie im nächsten Augenblick verlassen werden. Die Gesichter der Menschen spielen in seinem Werk eine zentrale Rolle. Das Gesicht ist immer der Blickpunkt, der den Betrachter bannt. Nirgends aber sind die Konflikte um das menschliche Gesicht ausgeprägter als in der Photographie oder dem Film.
Dem Porträt verwandte Ansichten ermöglichen es, einem Menschen in die Augen zu sehen, damit wir uns, wie Kant es formulierte, „dessen versehen können, was wir von ihm zu gewärtigen haben“. Das selbständige Individuum zeigt sich und verbirgt sich zugleich. Wir sehen nur das Gesicht, die Körperhaltung, die Kleidung und eventuell die Hände. Wird hören die Stimmen nicht, erfahren nichts über das Wesen oder die Geschichte des gezeigten Menschen. Darin besteht das Geheimnis seiner Souveränität und die Problematik seiner Analyse.
Thomas Ruff hat sich in den achtziger Jahren ebenfalls mit der Frage der Individualität auseinandergesetzt. Er photographierte junge Leute, die er persönlich kannte und die seiner Generation und seinem sozialen Umfeld angehörten. Es waren überwiegend Studenten der Düsseldorfer Kunstakademie oder Menschen, denen photographische Aufnahmesituationen und die grundsätzliche Idee eines solchen künstlerischen Projekts vertraut waren. Ruff wollte zeigen, dass die Erfassung der Persönlichkeit eines Menschen mittels der Photographie nicht möglich ist, sondern allenfalls die Wiedergabe des Gesichtes. Während Ruffs figurale Abbildungen die Darstellbarkeit einer Person geradezu verleugnen, formuliert Streuli diese Frage neu. Denn die flüchtige Begegnung eines Menschen, der Blick, der unvorbereitet, vielleicht abwesend oder unkonzentriert auf uns trifft, verweist viel eher auf ein Zentrum, auf eine Innenseite einer Person sowie auf die Präsenz eines seelischen Lebens, als bei der bewussten Inszenierung in Studiosituationen.
Zudem ist die Beleuchtung für die Frage der Klarheit einer photographischen Schilderung eines Menschen von entscheidender Bedeutung. Dies gilt bei Streuli im besonderen, da Schattenspiele, Kontrastwirkungen sowie gelungene Raumaufteilung seiner Bilder unerschöpfliche Überraschungen und somit unendliche Möglichkeiten ihrer Darstellung bieten. So ruht in ihnen das Geheimnis der sicheren, intuitiven Erfassung des menschlichen Gesichtes. Auch deshalb sind seine Bilder überzeugend. Beat Streuli unternimmt keine soziologische Analyse, aber vermittelt durch seine präzise Schilderung von Realitäten und durch die Konzentration auf bestimmte Gruppen ein vielschichtiges Bild großstädtischer Gesellschaften. Rupert Pfab
Aus Beat Streuli CITY von Hatje Cantz: ÖFFENTLICHE BILDER
Interview Beat Streuli / Johanna Hofleitner
JH: Ein Merkmal deiner Arbeit ist, daß du einen ziemlich genau bestimmbaren Ausschnitt der urbanen Gesellschaft fotografierst: Wollte man eine Quersumme durch dein Gesamtwerk ziehen, so sind das meist entspannte junge Menschen, die man fast der Mittelschicht zuordnen möchte. Du vermeidest das Anekdotische, die Darstellung des Ereignishaften, es geht dir eher um das Normale, Gewöhnliche und nicht um den Blick auf Randgruppen. Was für ein Bild einer Gesellschaft wird hier entworfen?
BS: Offensichtlich bin ich kein Dokumentar- oder Pressefotograf. Ich mache keine Reportagen, die Anspruch auf Repräsentativität hätten. Ich kann mir bis zu einem gewissen Grad den Luxus leisten, mich nur mit dem zu beschäftigen, wovon ich wirklich angezogen bin. Trotzdem zeige ich ein Bild dessen, was ich um mich herum wahrnehme, was mich fasziniert, was ich sehe - also ein Bild dieser Zeit und dieser Orte aus meinem Blickwinkel. Meine Herangehensweise hat vielleicht etwas "Intentionsloses" - insofern ich eben nicht geradlinig auf interessante Motive, exotische Nachbarschaften und Randgruppen lossteuere. Das kann manchmal in einem beinahe "objektiveren" Bild resultieren, als wenn jemand an ein Thema mit vorgefaßten Ansichten und Authentizitätsanspruch herangeht - was im Endeffekt nur auf eine Bestätigung oder Widerlegung von Vorurteilen herausläuft. In dem Sinn sehe ich mich nicht "out of competition" mit den Dokumentarfotografen. Ich versuche, mit der Kamera etwas von der Realität, die draußen ist, in Kunsträume und in den Kontext Kunst hineinzubringen.
JH: Was unterscheidet die Fotografie für dich von anderen Medien?
BS: Was dieses "Hereinnehmen von Realität" betrifft, hat Fotografie im Verhältnis zu anderen Medien wie Video, Film oder auch Musik, Theater und so weiter den Vorteil, daß sie ein "einfaches" Medium und verhältnismäßig leicht zu kontrollieren ist und dadurch für meine - wie ich manchmal sage - "amateurmäßige" Herangehensweise sehr geeignet ist. Das heißt, ich kann mit sehr einfachen technischen Mitteln und verhältnismäßig billig genau die Bildvorstellungen, die ich habe, übersetzen. Im Vergleich zum Film, wo Zeit, Ton und Sprache wichtig sind und viel kompliziertere Montagemöglichkeiten vorhanden sind, ist die Fotografie ein sehr elementares Medium.
JH: ... ein Medium, das dich der Wirklichkeit näher kommen läßt?
BS: Natürlich ist Fotografie nicht ein "Fotokopierer" für die Realität. Doch ist sie für mich diese Ebene, die sich zwischen den Bildern in meinem Kopf und denen da draußen befindet. Und die dauernd versucht, beides in Deckung oder auch Dissonanz zu bringen. Jedesmal, wenn ein Familienvater am Sonntag von seinem Kind ein Foto macht, geht es ja nicht nur darum, das Kind so abzubilden, wie er es sieht, sondern ebenso hat er dieses Bild im Kopf, wie es aussehen muß. Es geht dabei nicht nur um meine ganz persönlichen Vor-Bilder, sondern auch darum, daß die "öffentlichen Bilder" miteinfließen, in jeden Schnappschuß.
JH: Damit stellst du dich auch in einen massenmedialen Kontext, der sehr stark von der Fotografie bestimmt ist. Die Methode, nach der du deine Motive auf der Straße aussuchst, weist starke inhaltliche und formale Korrespondenzen zur Mode- und Werbefotografie auf. Schließlich nimmt auch deine Entscheidung für die Präsentationsform "Großformat" auf den öffentlichen Kontext Bezug.
BS: Dieser Zusammenhang von öffentlichen Bildern und wie sich eine individuelle Person fühlt, kleidet und darstellt, ist offensichtlich ein stark verflochtenes Beziehungsnetz, das ich sehr interessant finde. Die Leute drücken sich aus, indem sie Moden annehmen, ablehnen, transformieren und so weiter. Wie sich ein Mensch in seiner Gesellschaft situiert, ist ein ganz elementares Problem: dafür sucht er sich Bilder. Hier wiederum müßte eigentlich auch die Aufgabe der Kunst liegen oder lag sie bestimmt mal, als es außer der Malerei kein Massenkommunikationsmedium gab. Seit der Avantgarde hat sich das erheblich verändert. Gleichzeitig war das der Beginn der Fotografie und der mechanischen Reproduktion, die weitgehend Funktionen übernommen hat, die früher die Malerei innehatte: nämlich die Mythen unserer Zeit, die Ideale, die Stile, Strukturen, Formen und so weiter wenn nicht festzulegen, so doch zu reflektieren.
JH: Funktionen, die heute die Massenmedien übernommen haben?
BS: Ich glaube, da haben die Medien die Kunst einfach links überholt. Nun kann ich mich mit dieser Situation nicht zufrieden geben und arbeite auch deshalb mit fotografischen Mitteln auf eine "großzügige" Art, in der sich meine Zeit fokussieren, transformieren, widerspiegeln läßt - um nicht alles den anderen zu überlassen. Allerdings habe ich mich entschieden, den Kontext Kunst nicht zu verlassen, sondern innerhalb seiner Bedingungen zu arbeiten. Dabei muß einem klar sein, daß man logistisch, technisch und finanziell nicht an die Werbung oder an die Modefotografie herankommt. Man muß mit sehr viel einfacheren Mitteln versuchen, davon zu sprechen, aber gleichzeitig auch eine ähnliche Präsenz erreichen, insofern man genauso wie gute Modefotografie oder gute Videoclips einem breiteren Publikum Dinge zu vermitteln versucht, die es kennt und mit denen es keine grundsätzlichen Berührungsängste hat. Ich glaube, wenn ich wirklich ein Werbefotografie-Fan wäre, dann wäre ich schon längst in dieser Branche gelandet. Schlußendlich ist es aber meist doch nur nervtötender Kommerz oder reine Trendiness, die hinter der netten ästhetischen Oberfläche lauern. Deswegen glaube ich, daß man im mehr oder weniger zweckfreien Raum der Kunst mit diesen Phänomenen auf eine interessantere Art und Weise umgehen kann.
JH: Indem du dich so streng auf den öffentlichen Bereich Straße konzentrierst, filterst du auch einen bestimmten Code hinaus. Denn nicht zuletzt ist ja die Kleidung wie die Körpersprache ein Kommunikationsmedium, um Signale an die Gesellschaft auszusenden. Du stellst also ein bestimmtes Vokabular dar, das - abseits der Glanz-und-Glamour-Aesthetik der Werbung mit ihren bildgewordenen Wunschvorstellungen - in das Leben Eingang gefunden hat. Unter diesem Aspekt sehe ich deine Fotografien auch als Arbeit an einem nonverbalen Kommunikationssystem, als Notation dieser Zeichensprache.
BS: Das Interessante ist ja, daß der Mensch für Bilder nur ein rezeptives, kein produktives Organ besitzt, im Gegensatz zur Sprache. Kommunikation verläuft daher auf dieser Ebene in viel weniger symmetrischer und bewußter Weise als auf der der Sprache. Sich mit bildnerischen Mitteln auszudrücken, und sei das "nur" Mimik, Gestik, Kleidung wird im Gegensatz zur Sprache nicht gelernt. Gerade deswegen haben Bilder und die, die damit umgehen können, viel Macht - was aber sehr wenig thematisiert wird und was ihnen wiederum noch mehr Macht gibt. Ich finde es faszinierend, mit "denselben Waffen zurückzuschlagen" und eine leicht subversive Haltung einzunehmen. Ich arbeitet mit Bildern auf eine sehr nüchterne, einfache Art, die es für den Betrachter möglich macht, irgendwo hereinzuschlüpfen und das Ganze bewußter zu erleben und wahrzunehmen. Außerdem finde ich das Sehen schon an und für sich schön und wichtig. Wenn ich jemanden neu kennenlerne, nehme ich über seine Oberfläche, über seine äußerlichen Merkmale - Was hat er für Ausdrücke? Wohin guckt er? Was hat er für eine Physiognomie? - wahrscheinlich in zehn Sekunden mehr auf, als in einem ganzen Buch stehen könnte. Diese immense Informationsmenge wird zu wenig ernst genommen. Ich konzentriere mich daher auf diese "Oberflächen" und versuche, sie als etwas Les- und Fühlbares zu zeigen. Ich glaube, ein großes Problem nicht nur unserer Zeit ist, daß sehr viel Informationsverarbeitung auf einer sehr abstrakten intellektuellen Ebene und einem Baukastensystem aus vorgefaßten Meinungen passiert, die über die Medien vermittelt werden und von Ideologien gesteuert werden. Zum einen besteht daher ein Bedarf nach Bildern, die abstrake komplexe Problematiken unmittelbar, über die Sinne, vermitteln können. Würde man zum andern mit dem Sehen etwas bewußter umgehen und wäre man sozusagen stolzer drauf, wäre es um manches besser bestellt - siehe des Kaisers neue Kleider...
JH: Dokumentierst oder analysierst du also mit deiner Fotografie den Akt des Sehens?
BS: Ich würde eher sagen, ich versuche so zu fotografieren, als ob ich schauen würde und gar keinen Fotoapparat dabei hätte. Aber nicht nur intuitiv. Sozusagen als hochkünstlicher Transformationsprozeß, was mit dem Schnappschuß auf der Straße beginnt, der dann vergrößert wird oder auch in die wesentlich komplexeren Dia-Überblende-Projektionen eingebaut ist. Ich nehme zum Beispiel die meisten Fotos mit dem Teleobjektiv auf. Nicht nur aus praktischen Gründen, sondern vor allem, weil das Teleobjektiv eine sehr geringe Tiefenschärfe hat und das Bild verflacht und vereinfacht. So wird alles, was nichts mit der Person zu tun hat, die mich interessiert, unscharf. Sehen setzt sich auch aus unendlich vielen kurzen Blicken zusammen. Die Augen wandern in Sekundenbruchteilen dauernd hin und her und setzen sich so schlußendlich ein Gesamtbild im Kopf zusammen, was wiederum in meinen Projektionen, die aus Dutzenden von nur leicht voneinander verschiedenen Einzelbildern bestehen, seine Parallele hat.
JH: In den neuesten Arbeiten nimmst du mehr das Gesicht als die ganze Person in den Fokus. Für deine früheren Arbeiten hingegen sind eher Straßensituationen bezeichnend. Wie würdest du diese Verschiebung beschreiben?
BS: Ich sehe meine ganze Entwicklung wie eine Art Überflug über ein großes Areal - vielleicht die städtische Landschaft -, während dem sich der Schwerpunkt und der Blickpunkt immer wieder leicht verschieben. Nachdem ich nun etliche Jahre lang fast ausschließlich unbemerkt Fotos von Menschen in Großstädten gemacht habe, gab es eine Art Sog. Ich hatte das Bedürfnis, näher zu kommen. Und schlußendlich ist das Gesicht natürlich, wenn man von "visuellen Oberflächen" spricht, der Punkt, wo sich kommunikationsmäßig alles fokussiert. In den letzten Arbeiten habe ich mich sehr darauf konzentriert. Zum anderen suchte ich Mittel und Wege, meine Recherchen der letzten Jahre auch jenseits des "klandestinen" Schnappschusses fortzusetzen - eine Vorgehensweise, die mir immer sehr wichtig war und immer noch ist, weil sie einen Blick auf Personen ermöglicht hat, die nicht posieren oder ihr "öffentliches Gesicht" aufgesetzt haben, also jenes, das für andere Blicke gedacht ist. Normalerweise, denke ich, hat man in einer Menschenmenge auf einer belebten Strasse eine Art Anonymität, die fast schon wieder ans Private grenzt, denn es gibt so viele Menschen, daß keiner sich wirklich beobachtet vorkommt. Diese Momente, wo jemand vor sich hin geht, schon ans Nächste denkt und sich nicht darauf konzentriert, sein gesellschaftsfähiges Gesicht aufzusetzen - die fand ich immer sehr interessant, und die konnte ich nur realisieren, indem ich die Bilder "gestohlen" habe.
JH: Jetzt hingegen fragst du deine Protagonisten ja auch, ob du sie fotografieren darfst. Wie hat sich dein Verhältnis zu den Akteuren geändert?
BS: Es ist natürlich etwas völlig anderes, wenn man zu den Leuten, bevor man sie fotografiert, in eine irgendwie geartete Beziehung tritt, als wenn man wirklich nur die reine Oberfläche im Vorbeigehen einfriert. Der Auslöser war aber mehr das Problem im praktischen Vorgehen: Wie komme ich näher ran? Oder wie kann ich zum Beispiel die Fotos rechtlich gesehen besser verwerten - wie hier in Wien, wo die Fotos nachher als großformatige Plakate überall in der Stadt hängen. Es ging darum, Möglichkeiten zu finden, mir den Zugang zu erhalten, den ich in meinen unbemerkten Straßenporträts hatte - der es ermöglichte, sozusagen zwischen den Dingen durchzufotografieren und einen Weg zwischen den allzu definierten, verschlossenen Augenblicken zu finden, in denen eine Pose dominiert oder irgendein Klischee befriedigt wird. Deswegen glaube ich, daß die "inszenierten" Porträts von Schulklassen, die ich in Katalonien und Dänemark fotografiert habe, und auch die Touristen hier in Wien nicht so anders sind: Sie bewegen sich zwischen Dokumentation und Fiktion, wie eigentlich auch die Telefotos, nur von der andern Seite her kommend. Daß das funktioniert hat und somit die Situation der Aufnahme nun mindestens vorübergehend auch ihre "politische Korrektheit" gefunden hat, finde ich gut. Davon abgesehen ist natürlich ein neuer Aspekt in meine Arbeit hineingekommen: Wenn ein Mensch weiß, daß er fotografiert wird, posiert er sofort mehr oder weniger. Interessanterweise hat gerade diese Pose, die hin und wieder spürbar ist, bei den Wiener Touristen - die manchmal wirklich sehr überrumpelt wurden, weil wir sie einfach direkt auf der Strasse angesprochen haben und, sobald sie ihre Zustimmung gegeben haben, begonnen haben, herumzuknipsen - hat diese Situation es ermöglicht, aus einer großen Auswahl von Fotos genau das eine zu finden, das "zwischendrin" ist. In diesem Posieren und dieser leichten Unsicherheit - Gebe ich jetzt ein gutes Bild von mir? - öffnet sich eine Person auch. Noch einmal, es geht mir nicht um eine thematische Behandlung des Themas Großstadt und Menschen, das bewegt sich auf einer viel sinnlicheren Ebene. Ich bin oft sehr vom Potential in den Gesichtern, die ich auf der Strasse sehe, berührt - und manchmal auch von dessen Abwesenheit. Es gibt diese "positivistische" Seite in meiner Arbeit, eine Art - hoffentlich - kontrollierte Naivität, eine Gegengewichtung zur verbreiteten, in meinen Augen sehr destruktiven "alles wird immer schlimmer"-Stimmung am Fin de siecle. Und wenn man sich noch die Mühe macht, zum Beispiel U-Bahn zu fahren und dabei Gesichter anzuschauen, sehen viele ziemlich "richtig" aus.
JH: Was meinst du mit "richtig"?
BS: Richtig, insofern als sie ein offenes Potential haben - in dem Sinn, daß sie nicht so ganz auf eine einzige Lebensschiene eingezwängt sind. In Worte gefaßt klingt das ziemlich oberflächlich, Bilder sind in dieser Beziehung viel subtiler. Aber was hat man für andere Möglichkeiten, sich ein Bild der Zeit oder einer bestimmten Kultur zu machen? Nur aus den Medien kriegt man es bestimmt nicht.
JH: Also läuft es doch auf ein Gesellschaftsbild hinaus?
BS: Ja, aber vielleicht eine Art utopisches. Ich glaube, daß es - abgesehen von nackten Bestandsaufnahmen und kritischer Herangehensweise - auch die Entwicklung von Bildern braucht, die sein könnten oder vielleicht sein werden. Kürzlich habe ich den neuen John-Irving-Roman gelesen, und da sagte der Protagonist - ein Drehbuchschreiber -, sein Fehler wäre, daß er sein Land nie lieben konnte und daß er mit seinem Schreiben versuchen würde, ein Bild dieses Landes zu kreieren, das er dann lieben könnte. Das hat nichts mit gefühlsduseliger Sehnsucht zu tun. Sondern es ist ein wesentlicher Motor, wie sich überhaupt irgend etwas bewegt - indem man nämlich nicht nur versucht, die Realität wiederzugeben, sondern einzelne Stücke aus ihr so neu kombiniert, wie man sie gerne hätte, und die sich dann an der Ist-Situation reiben läßt - was dieser schlußendlich sogar vielleicht hilft, in eine bestimmte Richtung weiterzugehen.
JH: Auch das inszenatorische Moment - diese "Pose" in deinen neuen Fotografien - hat ja eigentlich nichts Künstliches. Es hat jedenfalls nichts mit einer tatsächlichen Veränderung der Realität zu tun.
BS: Ein Bild ist immer ein gewählter Ausschnitt und eine Inszenierung. Die bildnerische Manipulation ist immer gegeben, und es geht nur darum, ob man dazu steht, oder sie verschleiert. Denkt man an die Serien, die ich in Dänemark und Katalonien gemacht habe, von Teenagern, die die Generation sind, die vielleicht aus der Calvin-Klein-Werbung kommt, so ist das eine Begegnung von "Künstlichkeit" und "Realität", die genauso auch in der Werbung stattfindet. Calvin Kleins Models haben zwar im Gegensatz zu meinen keine Pickel. Und trotzdem, wenn wir diese Art Werbung angucken, denken wir: "Aha! das sind genau die Kids, die wir dauernd auf der Strasse sehen." Das ist der interessante Punkt: Daß idealisierte Bilder unter Umständen eher für die Realität stehen ksnnen als solche, die "aus dem Leben gegriffen" scheinen. Im weitern denke ich, das meine nicht ganz perfekt idealisierten Straßenfotos oder Porträts gerade durch diese leichten Mängel und Differenzen funktionieren. Es geht nicht um Gegenpositionen zu den öffentlichen Bildern, sondern um sachte Verschiebungen innerhalb des Systems. Deshalb hoffe ich auch, daß meine Fotos nicht als reine Faszination an Schönheit oder Jugendkultur gelesen werden. Ich glaube, daß meine Arbeit insofern ähnlich wie Film oder Werbung funktioniert, als sie Dinge und Bilder idealisieren muß, um überhaupt Kommunikation herzustellen und Messages zu übermitteln. Weil ich an der Gesamtheit dessen interessiert bin, was mich hier und heute umgibt, und doch nur immer in einer begrenzten Anzahl von Einzelbildern arbeiten kann, brauche ich solche, die auch für viele andere Bilder stehen - auch "Models", die für viele andere Menschen stehen, was nur mit relativ offenen, neutralen Gesichtern geht, die nicht sehr individualistisch oder charakterlich gezeichnet sind - und das funktioniert im allgemeinen mit jungen Gesichtern am besten.
JH: Welche Rolle spielt für dich die Öffentlichkeit?
BS: Die Bilder sind in der Öffentlichkeit aufgenommen und gehen oft dahin zurück. Ich versuche, so viel ich kann, die Bilder im öffentlichen Raum zu zeigen: auf Plakatwänden, wie hier in Wien, als Diaprojektionen und Großdias in Schaufenstern in der Stadt, wo ich sie aufgenommen habe, oder als Publikation, wie zum Beispiel ein Taschenbuch, das verteilt werden kann. Dieses Aufbrechen des musealen Raums ist bestimmt nichts Neues. Trotzdem finde ich, es ist etwas, das wert ist, gemacht zu werden - so oft wie möglich. Mit den Betrachtern dieser Ausstellung oder jenes Projekts in einen Dialog zu treten, ist nicht nur für mich selbst interessanter als meine Ausstellung einfach von A nach B nach C zu verschiffen. Mit dem Blick eines Außenstehenden auf eine bestimmte Situation während, sagen wir, drei Wochen oder drei Monaten kann ich wirklich nur an der Oberfläche schüren. Aber genau das können die Leute, die da wohnen, vielleicht nicht mehr. Deswegen glaube ich, daß es sinnvoll ist, so zu arbeiten, weil ich Blicke öffnen kann, die auch für die Leute, die selbst auf den Fotos sind, interessant werden können.
JH: Thematisiert deine Arbeit also auch den öffentlichen Blick?
BS: Wie gesagt, ich glaube jeder Blick ist halb öffentlich, halb privat.
JH: Wobei die Frage ist, wieweit das Private ..
BS: ...überhaupt existiert ...
JH: .. oder wieweit es überhaupt zunehmend zum öffentlichen Thema wird? Ich sehe in deiner Arbeit einen interessanten Dreh- oder Kippeffekt: Daß die früheren Bilder zwar mit weniger privater Anteilnahme gemacht wurden, während du bei den neuen Porträts von dänischen und katalanischen Jugendlichen sehr auf das Individuelle achtest und versuchst, an der Oberfläche so viel davon wie möglich hereinzuholen. Gleichzeitig aber führst du sie direkt in den öffentlichen Raum hinein. Denn durch ihre Setzung, durch die Präsentation in Schaufenstern und auf Plakatwänden gibst du deiner Arbeit eine neue inhaltliche Dimension.
BS: Gerade wenn du von meinen Porträts sprichst: Dieses Genre besteht ja meist nur mehr aus leeren Hüllen - gerade in einigen neueren Arbeiten, die sich soviel auf ihre Authentizität zugute halten. Klar ist es für jeden Künstler wichtig, daß er bei seinen persönlichen Motivationen bleibt, seinen persönlichen Faszinationen. Nur - ein Porträtfotograf versucht meist direkt auf das Persönliche, Charaktervolle hinzusteuern. Er sucht das Individuelle zu fassen, und das geht fast immer schief. Ich habe diese längere Arbeit in der Anonymität der Straße gebraucht, um ganz behutsam näher heranzukommen, um das Private und Emotionale immer mehr an mich heran zulassen. Wenn man es auf dem direkten Weg versucht, fällt man sofort in Sentimentalitäten und Klischees. Das heißt, man muß sich sozusagen "von hinten anschleichen" und mehr Gewicht auf die Anonymität und das Allgemeine legen, und dann stellt sich das Private wie von selbst ein - wenn man Glück hat. Wenn ich dann diese Porträts etwa in Überblende-Projektionen von vier mal sechs Metern zeige, kriegen sie zusätzlich etwas so Monumentales, daß der peinliche voyeuristische Guckkasteneffekt des kleinen netten Fotos weg ist. Es ist dann einfach zu groß, um eingeordnet zu werden als groß oder klein, öffentlich oder privat. Das ist so ein "Kunstgriff", wie ich Privates, Sinnliches, Direktes möglich machen kann in dieser Post-Post-Postzeit, in der oft nur noch ironische Gebrochenheit erlaubt zu sein scheint.
Das Interview wurde anläßlich der Plakatausstellung "Visitors" von Beat Streuli / museum in progress (Winter 1996/97) geführt.
www.beatstreuli.com