Vom kleinen Glück der Obdachlosen
In einem Wartezimmer fällt mir eine Zeitschrift in die Hände. „Was ist Glück?“ steht in großen Buchstaben in der Überschrift. Wenn man das Wort Glück bei google eingibt, kommt als einer der ersten Sätze folgendes: „Glücklich kann man zudem eine Person nennen, der es anhaltend gut geht, weil ihr Leben viel von dem enthält, was sie als wichtig erachtet.
Marcus kommt rein in unsere Sozialberatung, direkt zu meinem Schreibtisch. Er hat eine Mappe mit selbst gemalten Bildern unter dem Arm. Er breitet sie auf meinem Schreibtisch aus. Er zeigt sie mir alle, Entwürfe, fertige Bilder. Es sind echt schöne Sachen dabei. Hinter meinem Schreibtisch hängt bereits ein gemalter Schlumpf von ihm. Wir witzeln über seine Zukunft, dass er ein berühmter Künstler wird und seine Bilder teuer verkauft werden. Wir beide am Strand in Kuba, vor uns dümpelt ein Hochseekatamaran, es ist seiner. Unter einer Palme schlürfen wir an einem Cuba Libre. Lustige Fantasien an einem herbstlichen Dienstagmorgen in der Anlaufstelle für Obdachlose und Arme von fiftyfifty. Aber wer Marcus vor zwei Jahren erzählt hätte, er würde eine richtige Wohnung haben und seine Bilder würden einst in der fiftyfifty-Galerie ausgestellt, über den hätte er gelacht, wie über ein Boot am Strand. Über zehn Jahre war Marcus obdachlos, er lebte in einem Abbruchhaus. Neulich kam er rein und freute sich so sehr darüber, dass es schön warm war in seiner Wohnung und dann hätte er noch heiß geduscht. Er hätte so Glück gehabt, dass wir ihm geholfen haben, sagt er und strahlt mich an diesem Herbstmorgen an.
Kurz danach kommt Hassan, der in Wirklichkeit anders heißt und sich so weit von seinem früheren Leben entfernt hat, als hätte er damals auf dem Mond gelebt. Er geht für unsere Beratungsstelle einkaufen. Zwei Paletten Milch, 20 Pakete Kaffee, kiloweise Zucker, Toilettenpapier und was wir sonst noch so brauchen. Das ganze Lastenrad ist voll. Überhaupt kommt Hassan häufig rein und bringt was mit. Schokolade für genervte Sozialarbeiter*innen, Orangen und frische Minze, wenn jemand aus unserem Team erkältet ist. Er lächelt immer und hält meist einen kleinen Plausch mit jemandem.
Wenn es einen guten Menschen gibt,
dann ist es Hassan.
Doch früher war das ganz anders.
Ich erinnere mich noch an seine ersten Besuche bei fiftyfifty. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, in eine dicke Jacke eingemummelt. Wortkarg stand er da. Später hab ich ihn besucht, in Kellern und Abbruchhäusern, die seine Schlafplätze waren. Der letzte Schlafplatz war in einem runtergekommenen Abbruchhaus; in dem feuchten kalten Raum, hatte er in einer Ecke sein Lager aufgeschlagen. Es roch nach Fäkalien, weil andere die Nachbarräume für ihre Notdurft benutzt hatten. Da saß er vor mir auf einer abgeranzten Matratze. Vor ein paar Jahren hat Hassan dann eine Wohnung über unser Housing-First-Projekt bekommen. Heute ist er einer der bestgekleideten Menschen, die unsere Beratungsstelle betreten, uns Sozialarbeiter*innen eingeschlossen.„Du siehst aus wie aus einem Modemagazin“, sage ich ihm an diesem Morgen. Er winkt ab und lächelt: „Ich habe einfach nur Glück gehabt, ohne euch hätte ich das nie geschafft.“
Ich denke auch an das Lächeln von Alfi aus Guinea, der völlig einsam bei uns in der Beratungsstelle saß, kaum Deutsch sprach. Der sich einfach in einen Zug aus Italien nach Düsseldorf gesetzt hatte, um hier eine Zukunft zu finden. Der im Park geschlafen hat oder anderswo, wohin ihn an manchen Abenden jemand mitgenommen hat. Sein größter Traum war es, Krankenpfleger in Deutschland zu werden. Warum denn ausgerechnet Düsseldorf?, habe ich ihn damals gefragt. Der Name der Stadt klang gut, er habe was Schönes über die Stadt gelesen. Heute arbeitet Alfi bei einem Pflegedienst und macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Auch er hat eine Wohnung von uns bekommen, fleißig deutsch gelernt und nie die Hoffnung aufgegeben. Wenn er uns ab und zu nochmal besuchen kommt, grinst er über das ganze Gesicht. „Siete mia fortuna“, sagt er dann immer. Ihr seid mein Glück.
So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne, rief Hans im Glück bei den Gebrüdern Grimm. Die Botschaft des Märchens ist, dass Glück nicht in materiellem Reichtum, sondern in der Zufriedenheit mit dem, was man hat, zu finden sei. Und auch ich habe sicherlich Glück gehabt, bei einem Projekt mitarbeiten zu können, dass das Leben von Menschen wirklich verändern kann.
Oliver Ongaro, fiftyfifty-Sozialarbeiter