Obdachlosigkeit bei Frauen
Rund ein Viertel aller Obdachlosen sind Frauen. Laut Wohnungslosenbericht der Bundesregierung sind besonders obdachlose Frauen Bedrohungen ausgesetzt. Nicht nur Beleidigungen oder Beschimpfungen gehören für sie zum Alltag, sondern häufig auch sexualisierte Gewalt: Mehr als die Hälfte der befragten Frauen, die auf der Straße leben, berichtet von Belästigungen, Übergriffen oder Vergewaltigung. Der Weg zurück in eine eigene Wohnung scheint für viele unmöglich.
Von Hans Peter Heinrich
„Als Obdachloser bist du eigentlich auch im Stress. Du hast auch deinen Plan - deine Tagesstruktur ist nur anders“, so Linda Rennings, die selbst jahrelang obdachlos auf der Straße leben musste (vgl. den nebenstehenden Buchhinweis). „Ich fange morgens an, wenn ich wach werde. Jeder normale Bürger zu Hause im Badezimmer - was macht der, wenn er wach wird? Der geht aufs Klo, weil er muss.“ Dann schildert sie, wie das ist, wenn man als Obdachlose keine Toilette hat: „Männer stellen sich irgendwo an einen Baum oder in eine Ecke. Unschön. Aber machbar. Dir platzt weder die Blase, noch musst du dir in die Hose machen. Frauen auf der Straße haben vor allem am Morgen dieses Problem: Wo kann ich in Ruhe meine Notdurft verrichten? Und dann: Wo wasche ich mich? Wo kriege ich ein Frühstück her, das ich mir leisten kann? Wer schützt mich vor Gewalt?
Ein solches Leben sucht sich niemand freiwillig aus. „Wohnungslosigkeit ist kein persönliches Versagen“, konstatierten Elke Ihrlich und Christin Weyershausen vom Sozialdienst katholischer Frauen in einem Interview mit dem NDR. Trotzdem schämen sich viele. „Manchmal gibt es Frauen, die tagsüber einer Arbeit nachgehen und nachts in ihrem Auto oder sonst wo schlafen. Auf der Arbeit merkt man nicht, dass die wohnungslos sind.“ Elke Ihrlich ergänzt: „Ich kenne aus dem privaten Kontext Menschen, die wegen Eigenbedarf ihre Wohnung verloren haben und einfach keine neue Wohnung gefunden haben. Das ist unabhängig davon, wie viel jemand verdient. Das kann jedem passieren.“ Wo Wohnen zum Luxus wird, weil die Mieten grenzenlos steigen, kann es vor allem für Frauen gefährlich werden, wenn eine Beziehung zerbricht. Trennung vom Lebenspartner ist einer der häufigsten Gründe für Obdachlosigkeit von Frauen. Der Partner hat mehr verdient oder war sogar Alleinverdiener und der Mietvertrag läuft deshalb auf seinen Namen. Das Paar trennt sich - die Frau landet auf der Straße. Der Sozialdienst katholischer Frauen stellt dazu fest: „Die Großgruppe zwischen 30 und 50 gibt es eben aus diesen Trennungsgründen.“ Bei älteren Frauen, die früher wenig verdient haben, weil sie die Kinder großgezogen haben, reicht die Rente nicht mehr für die Miete und immer mehr von ihnen landen auf der Straße.
„Meine Obdachlosigkeit hat eine ganze Menge mit meinen gewalttätigen Männern zu tun“, berichtet Linda Rennings. „Durch wieviel Missachtung und Prügel bin ich gegangen, bis ich 'Warum' gefragt habe“. Es dauerte Jahre, bis sie den Mut fand, einen anderen Lebensweg einzuschlagen „als den Trampelpfad, auf dem ich zur Schnecke gemacht und zertreten wurde. Für mich mündete dieser Trampelpfad der Unterwerfung in der Obdachlosigkeit.“ Gewalt in der Ehe als Ursache für Obdachlosigkeit von Frauen hat erschreckende Dimensionen. Aus dem Statistikbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) geht hervor, „dass junge Frauen häufiger als Männer vor häuslicher Gewalt fliehen müssen“ und „70 bis 80 Prozent der Frauen in Wohnungsnot bereits Gewalterfahrungen gemacht haben.“
Für das Angebot einer Schlafmöglichkeit an junge Obdachlose wird nicht selten eine sexuelle Gegenleistung erwartet. Die Selbsthilfegruppe für obdachlose Frauen von Linda Rennings erhält regelmäßig entsprechende Offerten: „Letzte Woche hat wieder so ein Typ angerufen“, erzählt sie. „Den obdachlosen Frauen müsste unbedingt geholfen werden, hat er jesacht“. Aber sie ahnte schon, was dann kam. Er würde gern eine Frau bei sich aufnehmen, sagte der Mann. Die müsse ein bisschen was im Haushalt können. „Und wat der sonst noch erwartet, iss ja klar.“ Sie kennt diese Typen: „Wohnungsfreier“. Sie sprechen Frauen an, die auffallend lange auf derselben Parkbank sitzen, und bieten ihnen eine heiße Dusche und ein Bett an. Was in diesem Bett passieren soll, ist klar. Linda weiß, dass es genug obdachlose Frauen gibt, die verzweifelt genug sind, um das Angebot annehmen zu müssen. Auf junge Frauen, die sich alleine auf der Straße durchschlagen, lauern nicht nur Wohnungsfreier, sie geraten auch in den Blick professioneller Zuhälter. Deren gängige Methode: Die Frauen werden angefixt, süchtig gemacht, um sie dann auf den Strich zu schicken und Kapital aus ihrem Körper zu schlagen. Wenn sie vor der sexuellen Gewalt in eine andere Stadt fliehen, hat das behördlicherseits negative Konsequenzen. Noch einmal Linda Rennings dazu: „Die hochgelobte Freizügigkeit, die die normalen Bürgerinnen und Bürger genießen, gilt für Obdachlose nur eingeschränkt. Oft weigern sich Sozialämter, einer zugezogenen Obdachlosen Unterstützung auszuzahlen, weil sie ja 'grundlos“ den Ort verlassen hat, an dem sie Unterstützung bezogen hat. Frauen hängen also nach einer Vergewaltigung am Ort der Tat fest. Das Amt öffnet keine Tür nach draußen. Du bittest den 'Rechtsstaat' besser nicht um Hilfe.“
Das Leben auf der Straße macht krank. Im Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf hat man über einen Zeitraum von rund 23 Jahren die Befunde von gut 1.000 verstorbenen Obdachlosen beiderlei Geschlechts ausgewertet. Das durchschnittliche Todesalter von wohnungslosen Frauen wurde mit 49 Jahren errechnet; sie sterben 30 Jahre früher als der Rest der weiblichen Bevölkerung.

„Weiblich und wohnungslos“ – Ein Erfahrungsbericht
„Ich bin krank geworden. Ich habe meinen Job verloren und konnte die Miete nicht zahlen, bin geräumt worden. Klassiker!“ Linda Rennings war selbst jahrelang obdachlos. In ihrem kürzlich (Oktober 2024) erschienenen autobiographischen Buch, das exemplarisch für die Erlebnisse vieler Frauen steht, die auf der Straße besonderen Gefahren ausgesetzt sind, erzählt sie von ihren demütigenden und deprimierenden Erfahrungen: „Das ist mir erhalten geblieben, das Wissen um den geringschätzigen Blick, das abwertende Urteil, die mangelnde Gleichberechtigung oder Wertschätzung, die unsereinem entgegenschlägt. Den Kampf, den wir zeitlebens führen müssen, wenn wir uns draußen behaupten wollen.“ Nach der Flucht vor einem gewalttätigen Partner war sie fünf Jahre lang ohne Wohnung. Nicht bei Freunden oder städtischen Institutionen, sondern neben dem Grab ihrer geliebten Großmutter fand sie ihr erstes Refugium, ihr Zuhause für viele Monate. „Da, und nur da“, sagt sie, „habe ich mich sicher gefühlt“. Eindringlich schildert sie, wie Schmerz, Hunger, Kälte, Einsamkeit, Gewalt und Angst das Leben auf der Straße zu einer ewigen Winter-Nacht werden lassen. Viele obdachlose Frauen „haben Gewaltgeschichten“ und leben „brandheißgefährlich“, weiß Linda Rennings. Das Buch habe sie nicht alleine für sich geschrieben, sondern vor allem dafür „dass das Thema obdachlose Frauen wieder in die Gesellschaft, in die Medien, in die Öffentlichkeit getragen wird“. Ihr Buch ist ein Aufruf zur Unterstützung obdachloser Frauen, zugleich auch eine scharfe Kritik am Versagen der Politik beim Thema Wohnungslosigkeit. Sie selbst hat den Weg aus der Obdachlosigkeit geschafft und kämpft heute für Frauen auf der Straße. Mit dem von ihr gegründeten Verein „Heimatlos in Köln“ bietet sie konkrete Unterstützung im harten Alltag. „Obwohl Armut, Obdachlosigkeit und Männer-Gewalt sie fast das Leben kosteten, gab sie nicht auf und kämpft seit vielen Jahren als Aktivistin für Menschen auf der Straße. Ein ermutigender, mitreißender Lebensbericht.“ Günter Wallraff
Linda Rennings unter Mitwirkung von Albrecht Kieser: „Rebellin der Straße – Weiblich und Wohnungslos“, Rowohlt Verlag 2024,240 Seiten, 14 Euro