neulich: Vom menschlichen Mikroklima
Am Freitagnachmittag im Stadtbus. Es gibt nur noch einen freien Platz auf einem Doppelsitz, auf den mich ein Mann mit freundlicher Geste hinweist und dabei lächelnd zur Seite rückt. Als ich sitze, glaube ich zu wissen, warum dort bisher niemand saß: Mein höflicher Sitznachbar wirkt recht ungepflegt. Als eine Frau mit zwei großen prallvollen Einkaufstaschen zusteigt, bietet er ihr sofort, wieder sehr freundlich, seinen Platz an und bleibt im Gang stehen. Der Doppelsitz vor ihm ist raumgreifend von einem Herrn belegt, der, anscheinend in sein Buch vertieft, keine Anstalten macht, seine Aktentasche vom Nebensitz zu nehmen.
Es dauert eine Weile, bis die zugestiegene Frau ihre Einkäufe unter ihrem Sitz und zwischen ihren Füßen verstaut hat. Kurz danach bremst der Bus unvermittelt und heftig, eine der Einkaufstaschen kippt um, Äpfel, Milchtüten, Joghurtbecher und andere kleinteilige Lebensmittel kullern unter diverse Bänke. Einige Fahrgäste schauen auf, einer kommentiert mit „oh weh“, während der Freundliche im Nu auf Knien und Boden ist, unter den Sitzen Lebensmittel zusammenklaubt und sie der jammernden Frau auf den Schoß legt. Als sie sich bedanken will, sagt er nur: „Ist doch selbstverständlich.“ Wenn es doch so wäre …
Margarete Pohlmann