Intro: Über das Aufrüsten
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
für die Bewohner der Hebriden, einer Inselkette im Norden Schottlands, sind Läuse im Haar Garanten für ein gesundes Leben. Haben sie doch folgendes beobachtet: Verließen die Läuse das Haar ihres Wirtes, wurde dieser krank und bekam Fieber. Um das Fieber zu vertreiben, setzten sie kranken Menschen absichtlich Läuse ins Haar. Und siehe da: der Erfolg gab ihnen augenscheinlich recht. Sobald die Läuse sich wieder eingenistet hatten, sank die Temperatur und es ging es den Patienten besser. Ein berühmtes Beispiel für die Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die Läuse verlassen den Kranken, weil er Fieber hat – sie bekommen ganz einfach heiße Füße. Wenn das Fieber abgeklungen ist, kehren sie gerne zurück. Die Läuse der Hebridianer kommen mir immer wieder in den Sinn, wenn ich die derzeitigen, fast hysterischen politischen Rufe nach Aufrüstung höre. Begründung: Nur Waffen könnten den Frieden noch sichern. Wirklich? Wer glaubt, dass mehr Rüstung automatisch auch mehr Sicherheit bringt, unterliegt einem Trugschluss, wie schon Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner in ihrem Appel gegen das Aufrüsten vor über 100 Jahren darlegte: „Der Trugschluss liegt darin, die Rüstungen nur als Werkzeug der Sicherheit zu betrachten, statt auch als Provokation zum Kriege, als Quellen der Gefahr.“ Aufrüsten bezeichnet von Suttner als „Wettlauf zum Abgrund“. Die Begründung für Aufrüstung sei immer die gleiche: man sei von Gefahr und Feinden umgeben. „Das schafft eine Atmosphäre von Angst, aus der heraus die Bewilligungen erwachsen sollen.
Und wer verbreitet diese Angst? Die militärischen Kreise. Die haben immer einen ‚unvermeidlichen’ Krieg auf Lager, besonders einen solchen, ‚der im nächsten Frühjahr’ losgehen wird.“ Den „drohenden Krieg am Horizont brauche der Militarismus wie ein Stückchen Brot“, schreibt von Suttner. Die bösen Absichten des Nachbarn werden mit dessen Aufrüstung begründet, „Also überbieten wir ihn und beweisen so unsere Friedensliebe.“ Auch der Reflex zur Aufrüstung als Antwort auf den Angriffskrieg in der Ukraine ist nicht hilfreich. Bereits die Ankündigung der Beschaffung von mehr Waffen kann zu einer weiteren Eskalation führen – bis hin zum Atomkrieg. Es liegt auf der Hand, dass eine nachhaltige Friedensordnung nur durch Deeskalation, Verhandlungen und Abrüstung erreicht werden kann. Stattdessen wird der Ruf auch nach eigenen Atomwaffen immer lauter, ungeachtet der Tatsache, dass das „Overkill-Potenzial“ der derzeit weltweit bereits vorhandenen Nuklearwaffen ausreichen würde, die Erde mehrfach auszulöschen. Was für eine bizarre Logik einer Spezies, die sich selbst „homo sapiens“ nennt: Sicher sind wir nur dann, wenn wir uns und alles Leben auf der Erde jederzeit vernichten können - das der Flöhe eingeschlossen.
Herzliche Grüße,
Ihr Hans Peter Heinrich