Obdachlose schlafen in Büros
Über ein engagiertes Projekt in Paris
Feierabend in Paris. Die Büros stehen leer, die Computer sind ausgeschaltet, die Lichter gehen aus. Noch schnell in die Métro steigen und ab nach Hause. Doch nicht für alle bedeutet Feierabend auch nach Hause gehen zu können. Fast jede siebte Person in Paris ist von Armut bedroht, rund 4.300 Menschen leben auf der Straße – viele von ihnen trotz fester Arbeit. Obdachlosigkeit heißt nicht immer Arbeitslosigkeit, vor allem nicht in der zweitteuersten Stadt Europas: eine kleine Einzimmerwohnung kostet hier rund 1.300 Euro. Ein Preis, den sich viele nicht leisten können. Die Alternative? Oft bleibt nur die kalte Straße.
Doch warum, wenn unzählige Büroflächen nachts und am Wochenende ungenutzt bleiben? Diese Frage stellte sich vor sieben Jahren eine französische Initiative - und schenkt seitdem Menschen in prekären Lebenslagen Hoffnung. Die Idee ist bestechend einfach: Bureaux du Coeur (Büros der Herzen) - verwandelt Arbeitsstätten nachts in Schlafplätze für Bedürftige: darunter Obdachlose, aber auch Studierende in Armut, Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben und Menschen in beruflicher Wiedereingliederung. „Es ist absurd, wie viele warme, sichere und leerstehende Räume es gibt, während gleichzeitig unzählige Menschen auf der Straße schlafen“, stellt auch Marie (Name geändert) fest. Sie arbeitet in einem Versicherungsunternehmen. Hier wird seit Kurzem der Konferenzraum nachts zum Schlafsaal, der Empfangsbereich zu einem sicheren Ort zum Ausruhen. Morgens verschwinden Matratzen und Schlafsäcke, und der Arbeitsalltag geht weiter.
„Das Tolle daran ist, dass wir helfen können, ohne dass es für uns oder unser Unternehmen irgendeinen Nachteil gibt“, so Marie. Keine Nachteile? Wirklich? „Bureaux du Coeur“ legt besonderen Wert auf ein gutes Miteinander zwischen Gästen und Gastgeber*innen. Die Übernachtenden werden von den Unternehmen individuell ausgewählt und müssen volljährig und ohne Suchtkrankheiten sein. Ordnung, Hygiene und Selbstständigkeit sind Grundvoraussetzungen - die üblichen Regeln eines angenehmen Zusammenlebens eben. Natürlich wird auch darauf geachtet, dass die Gäste zuverlässig sind und sich an Uhrzeiten halten. Marie und ihre Kolleg*innen sitzen ab 8:30 Uhr am Arbeitsplatz. Bis dahin müssen die Gäste ihr Teilzeit-Zuhause wieder verlassen. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass man sich morgens im Flur beim „Schichtwechsel“ mal über den Weg läuft und kurz plaudert - Momente, die beide Seiten sehr schätzen. „Es ist mir schon passiert, dass ich gefragt wurde, in welchem Bereich ich hier arbeite“, sagt Supan lachend. Er ist obdachlos und schläft seit drei Wochen nachts dort, wo Marie tagsüber ihrem Beruf nachgeht. Für Supan ist das Büro sein einziger Rückzugsort in Paris. „Ich bin hier zu Gast. Aber seit einigen Wochen auch zu Hause.“, sagt er. Denn sein Schlafplatz bedeutet ihm mehr als das. Er ist für ihn auch die Möglichkeit eines Perspektivwechsels: „Manchmal ist es frustrierend, jeden Morgen all die Leute ins Büro kommen zu sehen, die einen festen Job und keine Geldsorgen haben, während ich nichts mache. Das motiviert mich, schnell wieder einen festen Job und einen Wohnsitz zu finden“, erzählt Supan. Aktuell nimmt er an einem Wiedereingliederungsprogramm teil - Pflicht für alle, die einen Schlafplatz bei „Bureaux du Coeur“ haben wollen. Schließlich will die Initiative den Menschen helfen, schnell wieder mit eigenen Beinen im Leben zu stehen.
Bedenken, dass etwas gestohlen werden könnte, gibt es keine. „Sicher, ein Restrisiko ist immer da. Aber wer würde stehlen, wenn das bedeutet, wieder auf der Straße zu landen?“ sagt eine Kollegin von Marie. Und so erlebt die Initiative ihre Gäste als überaus dankbar. Mittlerweile hat sich das Erfolgskonzept aus Paris auch in anderen Städten wie Lissabon, Barcelona und Brüssel ausgebreitet. Insgesamt beteiligen sich weltweit 250 Unternehmen und bieten mehr als 580 Menschen pro Nacht ein Dach über dem Kopf. Das zeigt: Gegen Obdachlosigkeit gibt es innovative Ideen – man muss sie nur umsetzen. Das Konzept, Büro-Räume für Menschen in Not zu öffnen, ist einfach und effektiv. Warum also nicht auch in anderen Städten? In Deutschland schlafen derzeit mehr als eine halbe Million Menschen auf der Straße - Platz für sie gäbe es eigentlich auch hierzulande genug.
Noemi Pohl
Galileo hat auf YouTube einen Beitrag über ein Projekt in Paris, bei dem Obdachlose in Büros schlafen dürfen, veröffentlicht: youtube.de