„Die Desertion ist die wahre Friedenspflicht“
Anmerkungen anlässlich des Internationalen Tages der Kriegsdienstverweigerung am 15. Mai.
Von Olaf Cless.
Das öffentliche Erinnern an Kriegsende und Befreiung vor 80 Jahren rückt auch das Schicksal all der Wehrmachtsdeserteure ins Blickfeld, die nicht fünf Minuten vor zwölf noch den „Heldentod“ sterben wollten und unterzutauchen versuchten. Heeresstreifen, eigentlich nichts anderes als uniformierte Killerkommandos, machten bis zum Schluss gnadenlos Jagd auf sie und ihre zivilen Helferinnen und Helfer. In Düsseldorf ist zum Beispiel der Fall von Else Gores überliefert, die bei sich Deserteure versteckt hatte, dann denunziert und wie die Deserteure selbst ermordet wurde – am 12. April 1945, Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner. Die fanatischen Täter hatten tief verinnerlicht, was Adolf Hitler schon in Mein Kampf zum eisernen Prinzip erklärt hatte: „Es muss der Deserteur wissen, dass seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muss man sterben.“
Die Verdammung und Verfolgung des Deserteurs – der Begriff taucht vor über 300 Jahren im deutschen Sprachraum auf – reicht weit in die Geschichte der Kriege zurück. Ab dem 17. Jahrhundert zum Beispiel wartete auf ertappte Deserteure der blutige Spießrutenlauf oder der Galgen. Manchmal ließ man sie auch untereinander um ihr Leben würfeln. Die Sieger mussten bei den Hinrichtungen zuschauen.
Im 20. Jahrhundert ging wohl keine Armee so grausam-gründlich gegen Deserteure vor wie die deutsche Wehrmacht. Vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis etwa Ende 1944 wurden 23.000 Todesurteile wegen Fahnenflucht gefällt, mindestens 15.000 davon auch vollstreckt. In den Urteilen ist dabei auch immer wieder vom Straftatbestand der „Wehrkraftzersetzung“ und von der nötigen „Aufrechterhaltung der Manneszucht“ die Rede. „Das ist ja ein Begriff“, sagt Ralf Buchterkirchen von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, „der sich nicht definieren lässt … der lässt sich ganz beliebig dehnen und pflegen, wie man ihn möchte, und so ist in großer Beliebigkeit ein Todesurteil möglich gewesen. Das ist am Begriff ‚Manneszucht‘ so entscheidend.“
Vor diesem Hintergrund war es ein epochaler Fortschritt, dass 1948 in das Grundgesetz der Artikel 4 Absatz 3 Eingang fand: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Der Satz verdankt sich maßgeblich einer Frau, nämlich der damaligen baden-württembergischen SPD-Landtagsabgeordneten, Frauenrechtlerin und Pazifistin Anna Haag (1888-1982), nach der heute kein Klingbeil und Pistorius mehr kräht. Vor einigen Jahren ist ihr Tagebuch 1940-1945 erschienen, das sie heimlich schrieb und im Garten vergrub. Es trägt den Titel Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode.
Rund 40 Jahre später, nämlich 1987, erkannte die Vollversammlung der Vereinten Nationen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als allgemeines Menschenrecht an. Viele Staaten haben sich in ihren Verfassungen dem angeschlossen. Nicht so unter anderem Aserbaidschan, Israel, Singapur, die Türkei und Nordkorea.
Die Ukraine, mit dem russischen Angriff konfrontiert, hat das Recht auf Kriegsdienstverweigerung suspendiert. Die Zahl der Strafverfahren gegen Widerspenstige geht in die Hunderte und ist seit Sommer 2024 stark angestiegen. Den Verweiger*innen drohen Haftstrafen von drei bis fünf Jahren, in Russland sogar bis zu 13 Jahren, Belarus schreckt selbst vor der Drohung der Todesstrafe nicht zurück. Bekanntlich haben sich sowohl wehrpflichtige Ukrainer als auch Russen zu Hunderttausenden dem Kriegsdienst durch Flucht ins Ausland entzogen. Die Ukraine hat im Mai 2024 ein verschärftes Mobilisierungsgesetz in Kraft gesetzt. Greifkommandos sind im Lande unterwegs, immer wieder wird von heftigen Straßenszenen berichtet, bei denen auch Passanten zugunsten der betroffenen jungen Männer eingreifen. Derer, die sich ins EU-Ausland abgesetzt haben, versuchen die ukrainischen Behörden u. a. durch neue Passgesetze habhaft zu werden. Die alte Bundesregierung hat sich bislang abwartend verhalten, zumal da die EU allen ukrainischen Staatsbürgern ausdrücklich einen befristeten humanitären Aufenthalt bis März 2026 gewährt. Wenn man aber die Stimmungsmache von Bild („Bürgergeld statt Krieg. Mehr als 200.000 potentielle Soldaten bekommen bei uns Stütze“) oder Äußerungen von Roderich Kiesewetter und anderen CDU-Politikern nimmt, die zur deutschen Amtshilfe für die ukrainischen Rekrutierungsstellen aufrufen, dann scheint auch hier eine „Zeitenwende“ nicht fern.
Das lässt auch ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom Januar 2025 befürchten, welches die Auslieferung eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers in sein Land für rechtens erklärt, ungeachtet des dort derzeit fehlenden Rechts auf Verweigerung. Rudi Friedrich vom Verein Connection, der sich international für die Rechte von Verweiger*innen einsetzt, wertet das Urteil als Versuch, „aus dem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung ein Schönwetter-Recht zu machen“. Der Bundesgerichtshof werde so „zum Steigbügelhalter für politische Forderungen nach Kriegsbereitschaft.“
Seit Februar 2022 haben nach Angaben von Connection e. V. auch etwa 5.400 russische Männer im Alter zwischen 18 und 45 Jahren in Deutschland Asyl beantragt. Der Großteil von ihnen wurde abgelehnt. „Dabei entziehen sie sich einem völkerrechtswidrigen Einsatz“, wie der Verein Connection anmerkt. Die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung gilt aber hierzulande nicht als Asylgrund. Die Rechtsprechung betrachtet die Militärdienstpflicht, egal wo, als legitim, also auch die Strafverfolgung von Verweigerern. Pech für russische Wehrdienstentzieher, wenn sie bei uns Asyl suchen. Nur im Falle direkter Desertion als Soldaten haben sie hier eine Chance.
Eine markante Stimme für die Kriegsdienstverweigerung und die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure, die teilweise noch heute als „Drückeberger“, „Verräter“ „Kameradenschweine“ u. ä. geschmäht werden, war der Schriftsteller Gerhard Zwerenz (1925-2015). Er studierte ab 1952 bei Ernst Bloch in Leipzig Philosophie und verließ fünf Jahre später die DDR in Richtung Bundesrepublik. Zwerenz hatte sich als 17-Jähriger freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, die Realität des Krieges zunächst in Süditalien erlebt und war dann 1944 bei Warschau desertiert und in sowjetische Gefangenschaft gegangen. Im Schlusskapitel seines streitbaren Buches „Soldaten sind Mörder“. Die Deutschen und der Krieg, das ihm 25 Anzeigen, Prozesse und Einstweilige Verfügungen einbrachte, zieht Zwerenz sein Fazit: „Die Welt kann nur von prinzipiell Fahnenflüchtigen gerettet werden; ihr Untergang wird besiegelt von den Nichtfahnenflüchtigen, die die Verräter unseres Zeitalters sind, weil sie das Leben an die Systematik der Vernichtung ausliefern, also verraten (…) Die Desertion ist die wahre Friedenspflicht. Indem ich mich weigere, bin ich.“
1958, zur Zeit des französischen Algerien-Kriegs, schuf der Schriftsteller und Chansonnier Boris Vian sein Lied Le Déserteur, das in Frankreich lange verboten blieb. Der Autor Gerd Semmer übersetzte es, übrigens in Düsseldorf, um diese Zeit erstmals ins Deutsche. Die ersten Strophen seiner Fassung lauten:
Ihr sogenannten Herrn, ich schreibe euch ein Schreiben,
lest oder lasst es bleiben und habt mich alle gern.
Ich kriege da, gebt Acht, die Militärpapiere,
dass ich in’n Krieg marschiere und zwar vor Mittwoch Nacht.
Ich sag euch ohne Trug: Ich finde euch so öde,
der Krieg ist völlig blöde, die Welt hat jetzt genug.
Ihr sogenannten Herrn, ich sage euch ganz offen
Die Wahl ist schon getroffen: Ich werde desertier’n.