Die Seele ist schneller als der Körper
"Je länger ich laufe, um so kleiner werden meine Probleme." Das sagt Veronika Wiegele, 37 Jahre alt, drogenabhängig seit 1993, Marathonläuferin seit 2008.
Drei Jahre lang war die Düsseldorferin durch Heroin, Valium, Alkohol, Speed und anderen Tablettenmix so abstürzt, dass sie auf der Straße, in Notunterkünften oder Abbruchhäusern lebte, ehe sie nach einer abgebrochenen Therapie eine Haftstrafe wegen Beschaffungskriminalität antreten mußte. "Das Gefängnis war meine Rettung, es brachte mir ein strukturiertes Leben", berichtet sie über ihre insgesamt 26 Monate in Frauenknast im niederrheinischen Willich. Dort begann Veronika, die als Schülerin eine gute Schwimmerin bei Bayer Uerdingen war, mit dem Laufen, erst auf dem Gefängnishof, dann unter Aufsicht im Gelände, wo bis zu fünf Frauen joggten. Daneben ließ sich die gelernte Apothekenhelferin, die wegen ihrer Drogensucht diesen Beruf nicht mehr ausüben darf, am Computer ausbilden, bestand Prüfungen mit Programmen wie Word, Excel, Powerpoint und gewann Abstand von einer achtjährigen Beziehung, einem Freund, der weiter schluckte und spritzte.
Draußen lief sie weiter, träumte von der Teilnahme an einem Marathon. Im Rahmen eines Wiedereingliederungsprogramms bekam sie ein kleines Appartment, arbeitet halbtags für ein 1E-Euro-Projekt bei einer karitativen Einrichtung. "Die frische Luft tut mir gut", merkte sie und lange Läufe am Rhein oder im Grafenberger Wald gehörten bald 4-5 Mal in der Woche zu ihrem Tagesablauf. Doch vom Heroin kam sie nur durch ein ärztlich gesteuertes Methadon-Programm los. Täglich muß sie die Ersatzdroge schlucken. "Ich bin von 33 mg auf 18 mg runter", freut sie sich heute und hofft, in absehbarer Zeit auf null zu kommen. Parallel schaltet die ehemalige Kettenraucherin ihren Tabakkonsum runter. "Ich rauche nur noch, wenn ich Lust darauf habe", sagt sie und weiss, dass diese kleinere Sucht ihre läuferischen Ambitionen stört, denn sie hat ein Ziel: "Eine Marathon-Zeit unter vier."
Entschlossen ging sie wenige Monate nach ihrer Haftentlassung ihren ersten Marathon im Mai in Düsseldorf 2008 an und kam nach 5:16:54 h ins Ziel. Glücklich war sie; die Freunde bei der Obdachlosenzeitung "fiftyfifty", für die Veronika Wiegele Zeitungen verkauft hatte, unterstützten sie, hatten eine sportliche Vorzeigefrau und Veronika machte auch bei einem Presseauftritt mit, erzählte ihre Geschichte vom ersten Haschischpfeifchen im Coffeeshop in Holland mit 16-jährigen Mitschülerinnen, ihren Abstürzen seit 1993, von Diebstählen und Verhaftungen. Im Oktober 2008 lief Veronika bereits 4:13:49 h am Essener Baldeneysee und war begeistert von der Atmosphäre. In Duisburg 2009 verbesserte sie sich erneut auf 4:08:51 h. Nun sponsorte die Zeitung "fiftyfifty" einen fünftägigen Aufenthalt zum Berlin-Marathon. Es war ihr erster Urlaub seit 1994, das Ambiente überwältigte sie. Bis zur Hälfte lag sie noch auf einer Zeit knapp über vier. "Dann merkte ich, es läuft heute nicht und ich wollte mich nicht unter Druck setzen und habe die Stadt Berlin genossen", erklärte sie. 4:23:56 h kamen heraus. In ihrem kleinen Apparment hängen ihre Marathonurkunden und Startnummern als Trophäen an der Wand. In Ordnern mit Klarsichthüllen sind die anderen Läufe fein säuberlich dokumentiert. 44:08 min über 10 km in Krefeld und ein Klassensieg in der W35 gehören dazu und 1:56 h im Halbmarathon. "Das wäre eine gute Durchgangszeit für Marathon", stellt sie fest und legte anderntags (am 8.11. in
Düsseldorf-Hassels) sehr beachtliche 1:41 h für die 21,1 km nach. Nun will sie am 2. Mai 2010 in Düsseldorf die vier Stunden knacken.
Beim Lauftraining hatte ich sie beobachtet. Der Schritt der zierlichen Frau ist leicht, mühelos führt sie dabei ein Gespräch. Die gebräunte Haut stammt von der Sonnenbank, klar, den bleichen Teint von Knast und Drogen wollte sie ablegen. Das lange Haar ist leicht getönt. Noch hat sie zu wenig Substanz, läuft in ihrer Begeisterung zu viel für ihre Verhältnisse. 43 kg bei 1,63 m Größe sind zu wenig. Die Seele ist schneller als der Körper. Sie will jetzt mehr warm essen und mehr Eiweiss zu sich nehmen. Aber auch das wird sie in den Griff bekommen wie ihr sonstige Leben, die neuen Bindungen zu ihrer Familie und sogar einem früheren Lehrer, der sie für eine Antidrogenkampagne gewinnen wollte. Spontan hat sie zugesagt. "Die Mädchen fangen immer jünger an", stellt sie fest, "von denen, mit denen ich früher rumzog, lebt glaube ich keine mehr."
Von Manfred Steffny