Leseproben

Es ist das Alltägliche, das mich fasziniert, das Übliche. Und dann plötzlich sehe ich etwas nicht Übliches - noch nicht Übliches: Da liegt ein Mensch, ein junger Mensch, halbbedeckt von seinem Schlafsack, quer mitten auf dem Bürgersteig, und in Höhe seines Kopfes und der Brust liegen Taschen und Beutel. Der junge Mann liegt nicht nah der Hauswand, wie sonst Obdachlose, die dort Schutz suchen und uns auch nicht im Weg sein wollen. Er liegt ruhig mitten auf dem Bürgersteig - und schon bin ich an ihm vorbeigefahren. Doch dies Bild blieb mir, dies Bild dessen, der keinen eigenen Raum für sich und seine notwendigsten Sachen hat, der nicht weiß: Wohin? Irgendwo muss er sich ja ausruhen können. Er braucht einen Ort, wo er für sich sein kann, und wenn er keinen hat, dann bestimmt er diesen Ort mitten sichtbar auf dem Bürgersteig. Ja, er will sichtbar sein, und das ist richtig so, denn gehört ihm, dem Bürger, nicht auch der Bürgersteig? Und er ist doch ein Bürger - wie alle anderen. Natürlich wird der junge Mann nicht lange dort liegen, obwohl er nur im Wege liegt, man ihm ausweichen kann. Die Ordnungskräfte werden ihn vertreiben und besonders energisch vertreiben, weil sie Angst haben, dass es nicht bei einem Einzelnen bleiben wird, dass es immer mehr Obdachlose geben wird, Wohnungslose, Flüchtlinge, Verzweifelte, die sich mitten auf den Bürgersteig legen werden und fragen, wohin es mit ihnen gehen soll.
Ingrid Bachér

Ortswechsel Worringer Platz. Auch hier hat Crack mittlerweile Einzug gehalten. Das Team eines großen Nachrichtenjournals begleitet mich mit der Kamera. Sie wollen die Auswirkungen des Crackkonsums filmen. Sobald die Kamera ausgepackt wird, kommen die Ersten auf uns zu. Mach die Kamera aus, sofort, bekommen wir zu hören. Die Stimmung ist sehr feindlich. Hier möchte niemand, dass die Realität gefilmt wird. Für euch sind wir doch nur Tiere, schnauzt jemand im Vorbeigehen. Ich spreche ein paar Leute an, ob sie bereit wären, sich filmen zu lassen und etwas über ihre Drogensucht zu erzählen. Niemand möchte. Greta, die zuständige Redakteurin, braucht aber Bilder, Bilder vom Crackkonsum. Man könne keine Reportage über Drogensucht machen und dann den Konsum nicht zeigen, das verstehe der Zuschauer nicht. Ob der Zuschauer das Ausmaß des Leids überhaupt erfassen kann oder sich vor der Glotze das nächste Bier aufmacht, dabei denkend: Guck mal die Junkies. Man weiß es nicht. Aber wenn man keine Öffentlichkeit herstellt, wird sich die Politik noch mehr wegducken vor der Problematik, als sie es sowieso schon macht. Sascha ist schließlich bereit, sich filmen zu lassen, wie er eine Crackpfeife zubereitet. Sein Gesicht soll man aber nicht erkennen. 
Neulich wurde ich bei Dreharbeiten gefragt, ob ich wüsste, wo man gut eine versteckte Kamera installieren könne, man bräuchte ein paar Bilder, wie gedealt wird. Mir verschlägt es ein wenig die Sprache. Die Gesichter würden natürlich verpixelt, ist die Antwort auf mein Zögern. Ich weiß keinen Ort und möchte auch keinen Tipp geben.
Laura steht vor unserer Beratungsstelle an der Tür. Zwei Kameras sind auf sie gerichtet. Ich empfinde die Fragen über ihr Leben als sehr intim. Aber sie macht es gut. Es ist eine Offenheit, die Empathie erzeugt. Laura ist 27 Jahre alt, seit 15 Jahren drogensüchtig. Zurzeit schläft sie einem Zelt, vorher auch bei Resa in der Grube. Wenn sie nicht lächeln würde, könnte man denken, eine ganz normale Frau. Nur beim Lächeln sieht man ihre vom Drogenkonsum zerstörten schwarzen Zähne. Sie erzählt von ihrem Kind, das nicht mehr bei ihr ist. Von ihrem Freund, der gestorben ist. Wie viel Leid kann ein Mensch tragen? Ich hoffe, dass ihre Offenheit beim Publikum etwas bewirkt. Dass Drogensucht eine Krankheit ist, dass es sich bei Süchtigen auch um Menschen handelt. Menschen, die das Leben richtig mies behandelt hat.
Oliver Ongaro

Krickel Krakel - der Name ist vielleicht auch, ohne dies despektierlich zu bemerken, so etwas wie Programm. Anders aber, als etwa bei dem berühmten Cy Twombly, dessen völlig abstrakte Gemälde tatsächlich an Kritzeleien auf Hauswänden und Pissoirs erinnern, entstehen die Bilder von Kricl aus einem abstrakten Gestus, münden aber im Malprozess oft in konkrete Figuren, die dann erst bei genauem Hinschauen und am besten aus der Distanz sichtbar werden. Als „Pinsel“ benutzt er Kämme und Scheckkarten ohne Guthaben freilich, mit denen er Farben, manchmal nur eine, die schwarze, oft aber auch unterschiedliche, ineinander verschachtelt auf Papier oder mit Resopal beschichtete Holzplatten, die er auf der Straße findet, aufträgt: schlierig, wahlweise mit dünnem, durchschimmerndem oder pastösem Auftrag - ein wenig so, wie manche Linien von Koks ziehen. Die Oberflächen der Bildträger müssen dafür immer glatt sein. „Meine Bilder entstehen im Prozess. Ich weiß vorher nie genau, was dabei herauskommt“, erläutert der Künstler. Je nachdem, was Krickel dann am Ende sieht, nennt er seine quasi mit kalkuliertem Zufall entstandenen Gemälde zum Beispiel „Drache“, „Roboter“ oder „Geiger“. Gerhard Richter, der bei seinen berühmten Rakel-Bildern ebenfalls auf eine gewisse intuitive Entstehung setzt, hat einmal gesagt: „Meine Bilder sind klüger als ich.“
Von Richter stammt auch der oft zitierte Satz: „Malen ist denken.“ Auch für Krickel, der über zehn Jahre in einem Abrissbungalow ohne Fenster und Türen im Sommer wie im Winter bei Hitze, Wind und eisiger Kälte obdachlos war, ist künstlerisches Schaffen „ein bewusster Prozess“. Aber wissen Künstler*innen wirklich immer genau, was sie tun? Marcel Reich-Ranicki hat einmal über die Entstehung von literarischen Texten gesagt: „Vögel haben keine Ahnung von Ornithologie.“ Das beschreibt nichts Anderes, als diesen Flow, der kreativen Schaffensprozessen zugrunde liegt. Krickel, der sein bescheidenes Obdachlosen-Obdach innen wie außen komplett übermalt und damit über viele Jahre Kunst am Bau betrieben hat, legt Wert darauf, dass seine Arbeit, wie er sie zu Recht nennt, zwar stets aus sich selbst heraus entsteht, aber doch eine individuelle, seine eigene Handschrift, einen Wiedererkennungswert, hat. Dass sie nicht irgendein Hobby ist und schon gar nicht einem therapeutischen Ziel dient, versteht sich von selbst.
Hubert Ostendorf